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Denken wird überschätzt
Warum unser Gehirn die Leere liebt

Das menschliche Gehirn stellt Forscher immer wieder vor Rätsel, da es eine unvergleichliche Komplexität mitbringt. Dass es allerdings auch überlastet sein kann und Verschnaufpausen braucht, ist keine Überraschung. Diesem Phänomen gehen die Autoren Niels Birbaumer und Jörg Zittlau in einem Sachbuch auf den Grund.

Von Michael Lange | 10.10.2016
    Die Grafik eines Kopfes, der mit Blitzen durchzogen ist.
    Die Grafik eines Kopfes, der mit Blitzen durchzogen ist. (imago / Science Photo Library)
    "Denken wird überschätzt." In ihrem zweiten Sachbuch erklären der Psychologe und Hirnforscher Niels Birbaumer und sein Co-Autor der Journalist Jörg Zittlau, warum unser Gehirn die Leere liebt. Dabei muss das Autoren-Duo zunächst feststellen, dass "Abschalten" für ein gesundes, aktives Gehirn gar nicht so leicht ist.
    "In einer Umfrage unter jungen Männern und Frauen gaben zwei Drittel zu, dass sie auf einer einsamen Insel eher auf Sex verzichten könnten als auf ihr Handy."
    Ursache ist die ständige Abwehrbereitschaft unseres Gehirns. Was passiert gerade um uns herum? Wo lauert Gefahr? In Millionen Jahren Evolution hat das menschliche Gehirn gelernt, dass es gefährlich sein kann, wenn man etwas Wichtiges verpasst. Die Folge: Ständige Bereitschaft. Daraus auszubrechen, ist gar nicht so leicht, aber möglich. Durch Übung können Zen-Mönche ihrem Gehirn Ruhepausen verschaffen.
    "Je länger die Mönche meditierten, desto stärker zeigten sich in ihrem EEG Alpha- und Theta-Wellen, also jene Aktivierungsmuster, die normalerweise auftreten, wenn wir einschlafen, aber nicht mehr, wenn wir bereits schlafen. Offenbar gelang es den Zen-Meditierenden diesen dämmrigen Wachzustand zu 'retten', ihn also zu konservieren, ohne anschließend vom Schlaf übermannt zu werden. Und das lag wesentlich daran, dass sich ihr Gehirn in einem Zustand der erhöhten, aber unausgerichteten Aufmerksamkeit befand."
    In der Hängematte schaltet der Geist herunter
    Ein Zustand des aufmerksamen Nichtdenkens, der auch Achtsamkeit genannt wird. Musiker schaffen das beim gemeinsamen Musizieren, Zen-Buddhisten beim Meditieren, Nonnen beim Beten, Faule beim Faulenzen.
    "Wenn wir in der Hängematte sanft hin und her schwingen, spüren wir, wie unser Geist herunterschaltet und wohltuende Entspannung eintritt – ein Phänomen, das mittlerweile wissenschaftlich bestätigt ist."
    Niels Birbaumer beschäftigt sich als Wissenschaftler mit sogenannten Locked-In-Patienten. Gelähmt, völlig bewegungslos sind sie eingeschlossen in ihrem Körper. Ihr Gehirn hat die Kontrolle über den Körper verloren und gibt sich nach und nach der Leere hin. Was Gesunden als Qual erscheinen mag, ist für Betroffene nichts Negatives, erläutert Niels Birbaumer.
    "Der Locked-In-Patient hat alles hinter sich. Die Leere kommt zu ihm, ohne dass er sie suchen müsste. Aber was noch entscheidender ist: Sie macht ihn glücklich."
    Das Buch verbindet Psychologie, Hirnforschung, Philosophie und Alltag. Überall entdecken die Autoren das Glück der Leere.
    "Für alle, die das Handy noch beiseitelegen können und zur Abwechslung einmal über das Nicht-Denken nachdenken wollen."
    "Leere ist mehr als nichts. Sie ist ein Zustand, vor dem wir intuitiv fliehen, und den wir erst genießen können, wenn er eintritt."
    "Gute Unterhaltung auf wissenschaftlichem Niveau. Vieles regt zum Nachdenken an, aber nicht vergessen: 'Denken wird überschätzt.'"
    Niels Birbaumer und Jörg Zittlau: "Denken wird überschätzt – Warum unser Gehirn die Leere liebt", Ullstein-Verlag, 256 Seiten, 20 Euro