Angela Lehner: "Vater unser"

Die Irrenanstalt als Naherholungsgebiet

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Buchcover des Romans "Vater unser" von Angela Lehner
"Vater unser": das energiegeladene Romandebüt der österreichischen Schriftstellerin Angela Lehner. © Hanser Verlag
Von Daniela Strigl · 01.07.2019
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Rotzig, trotzig, energiegeladen kommt das Romandebüt der österreichischen Schriftstellerin Angela Lehner daher. "Vater unser" spielt in Wien in der psychiatrischen Abteilung eines Spitals und ist eine ironische Milieustudie.
"Unser Geschwür ist der Vater. Der Vater wuchert uns unter der Haut, er dringt uns aus den Poren." Dies ist die Diagnose der psychiatrischen Patientin Eva Gruber, die im Wiener Otto Wagner Spital, vulgo Steinhof, einsitzt, so wie ihr magersüchtiger jüngerer Bruder, nur in einem anderen Pavillon.
Der Bruder heißt Bernhard, vielleicht eine Reverenz an den großen Virtuosen des Schimpfens und Verdammens, dessen Erinnerungsbuch "Wittgensteins Neffe" an eben jenem Ort angesiedelt ist. Schließlich gemahnen auch die Tiraden der Ich-Erzählerin dieses energiegeladenen Romandebüts ein wenig an Thomas Bernhard. Eva ist nämlich eine äußerst ungeduldige Patientin. Sie tritt als unerschrockene Rebellin mit Größenwahn auf und referiert über das exotische Soziotop auf den Hügeln über Wien im Stil einer Krankenhaustesterin. Unverblümt beschreibt sie die gestörte Schrebergartenidylle nebenan: "die Irrenanstalt als Naherholungsgebiet".

Jenseits von Krankheitspathos

Eva spielt Katz und Maus mit den anderen Kranken, den Schwestern und "Schwesterichen" und den Ärzten, insbesondere mit ihrem behandelnden Psychiater Dr. Korb, den sie mit allerlei Provokationen aus seinem professionellen Gleichmut zu locken versucht: "Es ist beruhigend zu sehen, dass der Arzt jetzt auch an der Therapie teilnimmt."
Evas bald sprödes, bald sprunghaftes Kommunikationsverhalten persifliert unterhaltsam therapeutische Konventionen. Die Freundschaft, die sich trotz allem zwischen dem müden Arzt und seiner widerborstigen Patientin allmählich entwickelt, wird diskret in ihren Dialogen abgebildet.
Die Perspektive der Schelmin, die rotzig und trotzig um ihre Souveränität ringt, bewahrt die Autorin vor Krankheitspathos und Larmoyanz und erlaubt ihr manch bitteren Witz: "Morgen ist ein neuer Tag, den man zugrunde richten kann." Vom Präsens der Spitalstristesse aus kehrt Angela Lehner mit ihrer Protagonistin immer wieder in das Imperfekt von deren Kärntner Kindheit zurück.

Ein eigenwilliges Charakterbild

Dabei erweist Eva sich als der Prototyp der unzuverlässigen Erzählerin: Hat ihr Vater sich umgebracht – oder lebt er mit seiner neuen Familie in Evas Kindheitshaus? Hat er sie und ihren jüngeren Bruder Bernhard einst wirklich missbraucht – oder dient das nur als Aufputz für ihre Krankengeschichte?
"Ich interpretiere da nichts Sexuelles rein; Missbrauch ist ein ausgelutschtes Thema", lautet Evas Kommentar über das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Aus der "abgelutschten" Textsorte "Abrechnung mit dem Vater" macht Angela Lehner eine ironische Milieustudie und ein eigenwilliges Charakterbild.
"Vater unser" meint im engeren Sinn das Gebet, das die Tochter einst mit der Hilfe des – glaubenslosen – Vaters auswendig lernte. Angela Lehner meidet aber auch in der Darstellung ländlicher Katholizität das Klischee wie der Teufel das Weihwasser. In absichtsvoller Undeutlichkeit ersteht das Bild des Vaters als die Parodie eines Familienoberhaupts, ein schwer depressiver Mann, Kettenraucher und Dauerschläfer, der sich seinen Kindern entzogen, vermutlich aber auch aufgedrängt hat.
Die drei Roman-Teile sind mit "Der Vater", "Der Sohn", "Der Heilige Geist" überschrieben, die ironische Überlegenheit des ersten Teils geht der Erzählerin zunehmend verloren, wir erleben sie als tief Verletzte, am Ende steht eine Flucht, die der Rettung des Bruders gilt und Evas Realitätsverlust offenkundig macht.

Angela Lehner: "Vater unser",
Roman Hanser Berlin, Berlin 2019,
284 Seiten, 22 Euro

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