Angebote zum Nachdenken

22.03.2012
Die im Dezember 2011 verstorbene Christa Wolf machte ihr Nachdenken stets öffentlich. Nun sind mit "Rede, dass ich dich sehe" Essays, Reden und Gespräche der Schriftstellerin erschienen, die viele Äußerungen enthalten, die nichts an ihrer Aktualität verloren haben.
Das geflügelte Wort: "Rede, dass ich dich sehe", so der Titel des Bandes mit Reden, Essays und Gesprächen Christa Wolfs, ist als Aufforderung zu verstehen: Wer das Wort ergreift, soll durch die Sprache etwas sichtbar machen und in dem Bild, das so entsteht, selber zu erkennen sein. Christa Wolf hat sich nie hinter ihren Texten versteckt. Das Credo ihres Schreibens hieß subjektive Authentizität. Erinnern ist ihren Texten ein Schlüsselwort, in denen geht es stets auch um den "blinden Fleck", darum, was man nicht sehen will. "Nachdenken über den blinden Fleck" lautet der Titel einer Rede, die Christa Wolf 2007 auf einem Kongress der Psychoanalytischen Vereinigung gehalten hat. In dem nun erschienenen Band ist er erstmals nachzulesen.

Christa Wolf gibt sich auch in diesem Band zu erkennen: Als Zuhörerin, die sich an Abende erinnert, an denen sie mit Uwe Johnson diskutiert hat; als Leserin, die sich Thomas Manns Romane noch einmal vornimmt, als sie im Oktober 2010 mit dem gleichnamigen Preis ausgezeichnet wird; als aufmerksame Freundin, die den schreibenden Kollegen Volker Braun und Adolf Muschg zu runden Geburtstagen gratuliert; als neugierige Kunstinteressierte, die Freude an Kunstdialogen mit bildenden Künstlern wie Angela Hampel, Ruth Tesmar, Carlfriedrich Claus oder Günther Uecker hat. Welche Beobachtungen sie dabei macht und welche Überlegungen durch Lektüren, Begegnungen und Dialoge befördert werden, ist in diesem Buch nachzulesen. Damit hat sie sich in den letzten elf Jahren ihres Lebens beschäftigt.

Die frühesten Texte – eine Rede, gehalten auf dem Kongress der Redenschreiber und eine Laudatio auf die Malerin Nuria Quevedo – sind im Jahr 2000 entstanden. Das Interview, das Christa Wolf im März 2011 der Wochenzeitschrift "Die Zeit" gab, steht am Schluss der Textsammlung – Christa Wolf starb am 1. Dezember 2011 in Berlin.

Christa Wolf hat sich eingemischt, sich zu Wort gemeldet. Das Hamlet-Wort "Nur reden will ich Dolche, keine brauchen", war ihr Maxime. Sie ist im Laufe der Jahre skeptischer geworden, aber sie ist neugierig geblieben. Kritisch hatte sie die Entwicklung in der DDR begleitet und nach der Wiedervereinigung wollte sie sich nicht zufrieden mit dem Erreichten geben.

Ihre Prosaarbeiten können als Angebote zum Nachdenken verstanden werden. Ein Jahr nach dem 11. Plenum des ZK der SED von 1965 begann sie – vom Verlauf und den Hintergründen des Plenums erzählt sie in "Jetzt musst du sprechen" – den Roman "Nachdenken über Christa T." zu schreiben. Nachdenken, dieser Begriff verbindet wie eine Klammer die verschiedenen Texte, die in diesem Band vorliegen. Literatur war für Christa Wolf stets ein Medium, in dem sie ihr Nachdenken öffentlich gemacht hat. Schreibend wollte sie etwas über sich in Erfahrung bringen und die so entstandene Literatur wurde zum Angebot für ihre Leser.

Nach dem Tod von Max Frisch schreibt Christa Wolf: "Ein Posten ist vakant." Diese Äußerung findet sich in einem Interview für die "Zeit". Ein weiterhin gültiger Satz wie so viele Sätze von Christa Wolf, die nichts an Aktualität verloren haben. Mit ihrem Tod ist ein zweiter Posten vakant geworden, was bei der Lektüre dieses Bandes mehr als deutlich wird.

Besprochen von Michael Opitz

Christa Wolf: Rede, dass ich dich sehe
Essays, Reden, Gespräche
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
207 Seiten, 19,95 Euro
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