"Andere kulturelle Einflüsse stärker maßgeblich"

Bernhard Scheid im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 02.04.2011
Die Heldentaten der Atom-Arbeiter in Fukushima erklärt manch ein Feuilletonist gern mit der japanischen Religion. Wichtiger als Buddhismus und Shinto seien dafür jedoch weltliche Ehrbegriffe und der Konfuzianismus, sagt der Japanologe Bernhard Scheid.
Anne Françoise Weber: Ganz unabhängig davon, wie sich die bedrohliche Situation im Atomkraftwerk Fukushima weiterentwickelt, in der Krisenregion kommen zur Sorge um das Heute die Trauer um die Tausenden Toten und die schrecklichen Erinnerungen der Überlebenden. Viel wurde in den letzten Wochen hierzulande über die Gelassenheit und die Disziplin geschrieben, mit der viele Japaner all das bewältigen. Hat das mit den dort dominierenden Religionen Buddhismus und Shinto zu tun? Oder ist das alles doch nur ein Klischee?

In einer deutschen Wochenzeitung findet sich ein Interview mit einem japanischen Zen-Abt, der sagt: Ziel für die buddhistische Praxis sei es, mit der konkreten Katastrophe konkret, aber in Gelassenheit umzugehen. Vor der Sendung habe ich mit Bernhard Scheid gesprochen. Er ist Japanologe an der österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ihn habe ich zunächst gefragt, ob hinter der Gelassenheit der Japaner also doch eine buddhistische Prägung steckt?

Bernhard Scheid: Ich persönlich gehöre doch eher zu den Skeptikern, aber man müsste wirklich vor Ort sein, um das jeweils genau beurteilen zu können. Einerseits haben wir es mit verschiedenen Phänomenen zu tun: Einerseits einer Erdbebenkatastrophe, und die wird meines Erachtens relativ, sagen wir mal professionell oder nüchtern oder wie auch immer gehandhabt, und andererseits mit der Atomkatastrophe, wo wir noch gar nicht wissen, wie die Reaktionen ausfallen werden. Natürlich sind auch die japanischen Religionen vorbereitet auf eine derartige Katastrophe, aber ob die Japaner jetzt wegen der Religion so darauf reagieren, wie sie reagieren, oder eher aus anderen Gründen, bleibt dahingestellt. Ich persönlich, obwohl ich mich also speziell mit Religion beschäftige, glaube doch, dass da andere kulturelle Einflüsse stärker maßgeblich sind, zum Beispiel, dass eben Erdbeben erwartet werden in gewisser Weise, dass jede Generation das erlebt und dass es sehr konkrete Dinge gibt, die in diesem Fall zu tun sind und die eigentlich jedem bekannt sind.

Weber: Wenn nun das höchste Heiligtum des Shinto, der Ise-Schrein, alle 20 Jahre abgerissen und neu aufgebaut wird, verbirgt sich dahinter auch schon so eine religiöse Verarbeitung einer alten Erfahrung mit Erdbeben, oder was ist da der Grund dafür?

Scheid: Das ist durchaus möglich, zumindest ist das ein Indiz dafür, dass sich in dieser Art Architekturgeschichte die Erwartung, dass nicht alles hält, dass die schon vorhanden ist. Angeblich hat man in uralter Zeit grundsätzlich Gebäude alle 20 Jahre oder nach einer bestimmten Zeit neu aufgebaut, und der Ise-Schrein, zusammen mit ein paar anderen, hat diese Tradition bewahrt.

Weber: Rituale sind überhaupt sehr wichtig in der Religion in Japan, im Grunde äußert sich der Glaube in diesen rituellen Handlungen. Vom christlichen Kontext her würde man jetzt denken, bei so einem Unglück gibt es offene Kirchen, in denen Menschen Kerzen für Verstorbene anzünden und Trauergottesdienste oder Trauermessen, die Teil einer kollektiven religiösen Verarbeitung der Katastrophe sind. Bieten denn die in Japan vertretenen Religionen auch die Möglichkeit solcher Feiern und solcher Trauerrituale?

Scheid: Es gibt natürlich Sterberituale für die Massengräber, die notwendig sind, um in den unmittelbar betroffenen Gebieten die Toten zu bestatten, und für die werden auf jeden Fall irgendwelche religiösen Zeremonien veranstaltet. Damit ist aber auch schon ein wichtiger Punkt gesagt, das ist nämlich, dass diese Gedenkgottesdienste viel stärker, als das hier zu erwarten wäre, an die Toten gerichtet sind.

Es gibt sozusagen eine sehr alte Tradition, die sich immer wieder neu findet und neu aktualisiert, in irgendeiner Weise zu gewährleisten durch religiöse Riten, im Allgemeinen durch buddhistische Riten, dass die Verstorbenen sicher ins Jenseits geleitet werden. Und gerade, wenn also niemand da ist, der sich um ordentliche Begräbnisse, Riten kümmert, stellt das ein Problem dar, das jetzt rituell gelöst werden muss.

Man fürchtet als Überlebender in gewisser Weise sich auch ein wenig vor der Rache, vor dem Zorn derer, die bei so einer Katastrophe umgekommen ist. Das ist eine Vorstellung, die heutzutage sicherlich nicht mehr so stark vertreten ist, wie sie in vormoderner Zeit anzutreffen ist, aber die, glaube ich, auch jetzt noch eine gewisse, vielleicht auch unbewusst eine gewisse Rolle spielt und spielen wird.

Weber: Viel wird ja jetzt über die Menschen spekuliert, die im Atomkraftwerk Fukushima arbeiten und versuchen, weitere Katastrophen zu verhindern. Da ist von einem besonderen Ehrbegriff die Rede, es wird auf Kamikaze, auf Samurai, auf Harakiri angespielt. Sehen Sie da wirklich religiöse Wurzeln, oder sind das nun wieder unsere Klischees? Es gab ja schließlich auch zahlreiche Feuerwehrleute in den USA, die nach den Anschlägen vom 11. September ihr Leben riskiert haben, um andere zu retten.

Scheid: Dass Einzelne zu besonderen heroischen Taten in der Lage sind, besonders in solchen Katastrophenszenarien, derartige Berichte findet man immer wieder. Was genau in Fukushima sich abspielt, wird ja auch zum Teil ganz bewusst nicht allzu klar gesagt. Diese Heldenberichte mögen bis zu einem gewissen Grad stimmen, ich könnte aber jetzt nicht sagen, dass das jetzt direkt auf eine der beiden religiösen Hauptströmungen – sei es auf den Shinto, sei es auf den Buddhismus – zurückzuführen wäre, da steht eher so ein säkularer Ehrbegriff im Hintergrund.

Sie haben ja schon erwähnt, Bushido und so weiter, das sind eigentlich alles weltliche Dinge, wo es um die Loyalität zu seinem Vorgesetzten geht, etwas, was vor allem durch den Konfuzianismus vertreten ist, der natürlich in Japan auch stark vorhanden ist. Und diese konfuzianischen Traditionen werden natürlich bis zu einem gewissen Grad – ob jetzt bewusst oder unbewusst – weiter tradiert, prägen das Verhältnis zur Obrigkeit und sind gerade in solchen Situationen wahrscheinlich schon auch nach wie vor relativ stark.

Weber: Die religiöse Landschaft in Japan ist ja geprägt von diesem Nebeneinander, vor allem des Buddhismus und des Shinto – denken Sie denn, dass eine der beiden Religionen, wenn man sie überhaupt noch trennen kann, jetzt die parateren Antworten hat – also der Buddhismus ist wichtig eben bei den Totenritualen, bei den Bestattungen. Kann das sein, dass der jetzt stärker in den Vordergrund rückt, oder gehen Sie davon aus, dass die Japaner auch diese Katastrophe mit ihrem ihnen eigenen Gemisch aus Religionen bewältigen?

Scheid: Ja, letztlich doch. Ich meine, in erster Linie, wie schon erwähnt, geht es darum, dass Leute gestorben sind, und das ist traditionellerweise die Domäne des Buddhismus. Der Buddhismus hat sich so was wie ein Monopol auf dem Gebiet der Totenrituale gesichert im Laufe der Religionsgeschichte. Ich erwarte gleichzeitig, dass es früher oder später auch zu dieser Art von paradoxen Festen kommen wird, paradox jetzt insofern, als in der Geschichte sehr oft auf schlimme Katastrophen besonders fröhliche Volksfeste gefolgt sind, die man überhaupt nicht eindeutig dem Shinto oder dem Buddhismus zuordnen kann. Die sind mehr oder weniger aus beiden Traditionen gemischt, aus einer Art Logik, wenn man so will, dass für so eine Katastrophe eine Gottheit wohl verantwortlich sein muss, die man offensichtlich bis jetzt zu wenig berücksichtigt hat.

Es ist nicht so sehr das Böse, das solche Katastrophen verursacht, sondern eher eine Art Unaufmerksamkeit gegenüber den jenseitigen Mächten, wer immer das jetzt genau ist. Und es ist meistens eine neuartige Gottheit, die bisher noch nicht so im Mittelpunkt gestanden ist, vielleicht schon in der einen oder anderen Form vorhanden war. Jetzt übertragen auf die moderne Gesellschaft kann es also durchaus sein, dass aus einer ähnlichen Antwort eine Art neureligiöse Bewegung entsteht. Das wäre meine Vermutung, wobei das muss jetzt nicht natürlich gleich sein, aber vielleicht in absehbarer Zeit. Neue Religionen sind auch ein wichtiger Teil der japanischen religiösen Landschaft. Ähnlich wie in Amerika gibt es da sehr viel mehr als hier in Europa, und die entstehen dann eventuell auch als Antwort auf ungewöhnliche Ereignisse.

Weber: Nun ist hier immer wieder zu hören, die Japaner seien besonders technikgläubig und stünden dann auch noch Staat und Politik eher unkritisch gegenüber, deswegen gäbe es keine starke Antiatombewegung, es mag auch sein, dass es diese Antiatombewegung gibt und sie nur in den Medien nicht so auftaucht. Aber beobachten Sie denn diese Technik- und Staatsgläubigkeit, und vermuten Sie hier religiöse Wurzeln oder dann auch wieder den Konfuzianismus als Grund?

Scheid: Was das Verhältnis zum Staat betrifft, ist natürlich auch wieder in gewisser Weise der Konfuzianismus beziehungsweise gewisse ethische Maximen, die Japan durchaus mit China teilt, maßgeblich. Die wurden dann natürlich auch vom Buddhismus verbreitet, also das eine schließt das andere keineswegs aus. Man sieht vielleicht trotzdem aus diesen Antworten, dass man immer berücksichtigen muss, dass Religion als solches in Japan vielleicht ein bisschen anders funktioniert, als man das aus einer christlichen Erwartungshaltung gewohnt wäre oder erwarten würde.

Weber: Und was ist ein ganz grundsätzlicher Unterschied, noch mal zum Schluss zusammengefasst?

Scheid: Ein ganz grundsätzlicher Unterschied ist, dass die Tröstungen der Religion und die Aktivitäten der Religion stärker auf rituellem Gebiet liegen als hier, dass es also weniger darum geht, inhaltliche Erklärungen anzubieten, wie zum Beispiel eine Prüfung Gottes oder wie auch immer – obwohl es das natürlich auch gibt –, aber das steht aus der Sicht der religiösen Spezialisten nicht im Vordergrund. Im Vordergrund stehen also eher gewisse rituelle Antworten, die im Grunde aus der Tradition genommen werden. Und da gibt es natürlich für manche Anlässe buddhistische Rituale, für andere Shinto-Rituale, die jetzt nicht in Konkurrenz miteinander stehen, sondern einfach anlassbezogen einmal eher das, einmal eher das zur Anwendung kommen.

Ich weiß nicht, man sieht manchmal, wenn also unmittelbar frisch geborgene Leichen irgendwo bestattet wurden oder auch nur zugedeckt wurden, wo dann gleich Leute, vielleicht Angehörige, davor niederknien und ein kleines Speiseopfer bringen. Das wäre zum Beispiel eine sehr typische traditionelle Form, die Toten zu ehren, die jedem Japaner geläufig sind und die er auch dann gleich macht an Ort und Stelle. Und dann ist vielleicht auch noch ein Helfer dabei, der da gleich mitmacht. Das funktioniert ganz selbstverständlich eigentlich, und das ist natürlich in gewisser Weise auch ein Trost oder ist jedenfalls tröstend, dass man eine derartige religiöse Antwort in solchen Fällen parat hat.

Weber: Vielen Dank für das Gespräch! Bernhard Scheid ist Japanologe und Mitarbeiter am Wiener Institut für Kultur und Geistesgeschichte Asiens an der österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sein Webhandbuch "Religion in Japan" finden Sie unter http://www.univie.ac.at/rel_jap/
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