Analyse & Kritik

Kunsterklärung in Fallstudien

Eine Videoinstallation der südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz wird am Dienstag (28.10.2008) bei der Ausstellungsvorbesichtigung in der Temporären Kunsthalle in Berlin von einer Frau fotografiert.
Auch das Werk der südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz - hier eine Videoinstallation aus dem Jahr 2008 - analysiert Tom Holert. © dpa/ picture alliance / Rainer Jensen
Von Ingo Arend · 22.05.2014
"Übergriffig", wenn jemand mit diesem Wort charakterisiert wird, dann hat er Grenzen überschritten. Der Berliner Kunsttheoretiker Tom Holert wendet diesen Begriff nun auf die Gegenwartskunst an, um zu zeigen, welche Produktivität dort eine Grenzüberschreitung entfalten kann.
"Übergriff" – wie produktiv sich ein gemeinhin negativ besetzter Begriff verstehen lässt, demonstriert der Berliner Kunsttheoretiker Tom Holert jetzt in seinem neuen Buch.
Der Band ist keine monographische Untersuchung zu den "Zuständen der Gegenwartskunst", wie es der Untertitel verspricht. Der 1962 geborene Kunsthistoriker aus dem Umfeld der Zeitschrift "Texte zur Kunst", der lange Professor in Stuttgart und Wien war und gelegentlich auch als Künstler auftritt, hat vielmehr elf Texte aus den letzten 14 Jahren über markante Protagonisten der Gegenwartskunst versammelt. Wenn die Künstler, die Holert darin behandelt, ästhetisch etwas eint, dann, wie sie "übergriffig" werden.
Der Filmemacher Mark Lewis beispielsweise versucht, mit scheinbar dokumentarischen, tatsächlich aber sorgsam inszenierten Straßenszenen im Südosten Londons das "stillgestellte Bild" der Landschaftsmalerei zu kopieren. So wie sich in Holerts Analysen die Anverwandlung von und der Wechsel zwischen den Medien als eine charakteristische Disposition von Gegenwartskunst herausschält, wird sein etwas vages Fazit von einem "Aufbruch in das beyond" der Gegenwartskunst angenehm konkret. Genauso wie die "hybride Praxis", die Holert ihr generell attestiert.
Unter dem Begriff Gegenwartskunst versteht man meist immer noch ikonische Größen: Andy Warhol oder Gerhard Richter etwa. Holert bricht diese enge Wahrnehmung auf. Denn er stellt hierzulande einem breiteren Publikum eher unbekannte Größen wie Stephen Prina, Josephine Pryde oder die Bernadette Corporation vor.
Kaum ein anderer Kritiker-Theoretiker in Deutschland beobachtet die allerjüngste, internationale Gegenwartskunst so aufmerksam. Auch wenn sie, wie Holert selbst einräumt, durchweg aus dem "globalen Norden" stammt. So kritisch, wie sie allesamt arbeiten, wirken sie wie das Gegenprogramm zur Integration der Gegenwartskunst in eine "globale politische Ökonomie des Wissens", die Holert im Vorwort feststellt.
Krise der Kritik
Dort diagnostiziert der Wissenschaftler auch eine Krise der Kritik. In dem Maße, in dem die Künstler, vor allem aber die Kuratoren zu Interpreten und Präsentatoren der Gegenwartskunst aufgerückt seien, sehe sich die Kritik zurückgedrängt auf Nachbereitung und Popularisierung.
Seine luziden Nahaufnahmen widerlegen diesen Befund freilich nachdrücklich. Mit ihnen erweist sich Holert als der herausragende Vertreter einer wissenschaftlichen fundierten Kunstkritik – jenseits tagespublizistischer Sprechblasen oder textueller Biopics.
Seine Methode: Er füllt sein beeindruckendes philosophisches, kunsthistorisches und literarisches Wissen wie ein Kontrastmittel in das jeweilige Oeuvre. Analytisch, aber niemals inquisitorisch, mitunter etwas abgehoben, aber niemals verblasen, theoretisch, aber immer anschaulich erhellt er die Arbeiten in einer Komplexität und Differenziertheit, die ihresgleichen sucht. Die "Konversations"-Performances der Künstlerin Sarah Pierce etwa deutet er vor dem Gesprächsbegriff der Philosophen Friedrich Schleiermacher oder Richard Rorty.
Holerts Arbeiten sind zwar Fallstudien. Sie münden aber immer in generelle Erkenntnisse über die Kunst. An den Installationen der südafrikanischen Medienkünstlerin Candice Breitz etwa schätzt er, dass "sie die Mittel für eine Erfahrung bereit stellen, die anders nicht möglich wäre". Eine Charakterisierung, die sich auch auf ihren Verfasser anwenden ließe. Stellt er doch die Mittel für eine Erkenntnis bereit, die anders nicht möglich wäre.

Tom Holert: "Übergriffe. Zustände und Zuständigkeiten der Gegenwartskunst"
Philo Fine Arts, Hamburg 2014
350 Seiten, 24 Euro

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