Analyse des Kapitalismus in Briefen

Rezensent: Joachim Scholl · 31.05.2005
Der kürzlich verstorbene Schriftsteller Carl Améry startete im vergangenen Jahr eine Initiative, bei der zahlreiche Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten Briefe an Manager, Wirtschaftsfachleute und Superreiche schrieben und darin an deren soziale Verantwortung appellierten. Die Korrespondenzist jetzt in einem Band zusammengefasst, liefert eine messerscharfe Analyse der Globalisierungsfolgen und zeigt Lösungsansätze auf.
Im vergangenen Herbst machte Bundespräsident Horst Köhler einen Hausbesuch bei dem bayerischen Schriftsteller Carl Améry. Der Anlass war ein Brief, in dem Améry das deutsche Staatsoberhaupt und den ehemaligen Präsidenten des Internationalen Währungsfonds zur Gründung einer "Zukunftswerkstatt" aufforderte - um die Gefahren der Globalisierung zu analysieren und Gegenstrategien zu entwickeln. Um diese Institution zu finanzieren, schlug Améry vor, jeder deutsche Millionär solle ein einziges Prozent seines Vermögens stiften.

Aus dieser Initiative ist bislang nichts geworden – dafür hat Carl Améry eine andere Aktion gestartet, indem er weitere Autoren dazu aufrief, ebenfalls Briefe zu schreiben und auf diese Weise die Debatte über Arm und Reich fortzuführen. "Briefe an den Reichtum" heißt das Ergebnis und der Band, der nun im Luchterhand Verlag erschienen ist.

Wer schreibt an wen und worüber?

Die Autoren sind Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten, die sich in ihrer Arbeit mit den Phänomenen des internationalen Kapital- und Finanzwesens intensiv beschäftigt haben. So schreiben etwa der bekannte SPIEGEL-Autor Harald Schumann (Buch: "Die Globalisierungsfalle", 1996) und der Sozialphilosoph Oskar Negt an den Ex-Vodafone-Chef Gent und Siemens-Vorstand Heinrich von Pierer, der Schriftsteller Harald Grill wendet sich an Silvio Berlusconi, der Theaterwissenschaftler Gottfried Fischborn richtet ein Schreiben an den amerikanischen Großfinanzier und Kunst-Mäzen Alberto Vilar.

Dabei geht es zum einen um die immer hemmungslosere Bereicherungsmentalität in den Führungsetagen, zum anderen um Mechanismen internationaler Geldpolitik, die nicht nur viele Länder in die Verarmung treiben, sondern ebenso die demokratischen Ordnungen der westlichen Gesellschaften direkt bedrohen. Wenn Geld nur noch die Funktion hat, mehr Geld zu erzeugen, die Ökonomie lediglich dem Diktat von Effizienz und Mehrwert untersteht, sind die politischen, sozialen und ökologischen Krisen programmiert. Ihre Anzeichen sind jetzt schon überall sichtbar.

Schüren diese Briefe Sozialneid und Klassenkampf?

Der Klassenkampf ist längst Realität. 200 Superreiche haben genauso viel Geld zur Verfügung wie die ärmere Hälfte der gesamten Menschheit. Ein Topmanager verdient heute das 240fache eines Arbeiters, Mitte der 1970er Jahre war es "nur" das 30fache.

Dennoch geht es den Verfassern der Briefe nicht um Häme und Neid. Reichtum ist per se kein Verbrechen, sondern kann ein Segen sein, wenn er als Verantwortung begriffen wird. Die Autoren appellieren mal sanft, mal ironisch, in der Regel jedoch sehr sachlich an das Gewissen der Eliten.

In einem rührenden Brief an Oliver Kahn feiert der Cap Anamur-Gründer Rupert Neudeck die sportlichen Leistungen des Nationaltorhüters. Neudeck erzählt die Geschichte eines afghanischen Dorfes. Die Bewohner kannten nur den Namen eines einzigen Deutschen, eben Oliver Kahn. Könnte der mehrfache Millionär nicht 40.000 Euro spenden, was einem geschätzten Zehntel seines Monatseinkommens entspricht? Mit dem Geld wäre eine Schule für 800 Schüler komplett zu finanzieren. Man hofft, dass dieser Brief seinen Adressaten erreicht.

Welche Impulse setzt der Band in der gegenwärtigen Kapitalismus-Debatte?

Das Buch konzentriert die zahlreichen Probleme kapitalistischer Geldwirtschaft. In vielen Einzelanalysen werden Zusammenhänge sichtbar und auch verschiedene Lösungsansätze formuliert. So gibt es das schwedische Beispiel einer gemeinnützigen Bank, die nur mit den Einlagen wohlhabender Mitglieder arbeitet und ohne Zinseszins auskommt. Ein ähnliches Modell wird derzeit in Stuttgart vorbereitet.

Es wird deutlich, dass ein grundsätzliches Umdenken im internationalen Finanzwesen für die Zukunft des Planeten unvermeidlich, aber auch möglich ist. Der Begriff vom "Wachstum" darf kein Passepartout für jegliche Art von ökonomischer Rücksichtslosigkeit mehr sein, "Wachstum wozu?" lautet die entscheidende Frage.

Carl Améry setzt in seinem Brief große Hoffnung auf eine stärkere Rolle des Bundespräsidenten. Gerade durch sein Expertenwissen sei Horst Köhler ein wichtiger Mann für ein neues soziales Bewusstsein in Deutschland. Leider lesen wir nicht, was bei jenem Hausbesuch zwischen Schriftsteller und Präsident gesprochen wurde.

Carl Améry (Hrsg.): Briefe an den Reichtum
Verlag Luchterhand, 270 Seiten, € 18,00