Analyse der modernen Gesellschaft

21.01.2013
Der in Korea geborene Philosoph Byung-Chul Han lehrt an der Berliner Universität der Künste. In seinen Schriften beschreibt er unsere Zeit als von Selbstausbeutung und radikaler Transparenz gekennzeichnet. In seinem neuen Buch analysiert Han die Lage der Liebe in Zeiten der Erschöpfung.
"Zur Krise der Liebe führt die Erosion des Anderen (...) die mit zunehmender Narzissifizierung des Selbst einhergeht." In seinem neuen Buch "Agonie des Eros" analysiert der Philosoph Byung-Chul Han die Lage der Liebe in Zeiten von Erschöpfung, Selbstausbeutung und radikaler Transparenz.

Zunächst geht es Han um eine Defintion von Liebe, die sich der Vereinnahmung oder gar dem Verbrauch entzieht. Die Liebe und mit ihr die Erotik sind bestimmt vom Reiz des Anderen, und der Andere ist "ortlos", fremd und unverfügbar. In einer "Transparenzgesellschaft", in der alles sichtbar, lesbar und berechenbar gemacht werden soll und Übergänge, Schwellen und Rituale verschwinden, verschwindet auch dieser Andere und damit Erotik und Liebe in einem nicht banalen Sinn.

Das von sich selbst besessene Ich kann nichts Ich-Fremdes mehr zulassen, es wird aber auch nicht mehr vom anderen von sich selbst erlöst. Dies geschieht nur durch die Selbstaufgabe des Subjekts in der Liebe, das eben dadurch wieder zu sich selbst kommt: durch die Gabe des anderen.

In kurzen Kapiteln untersucht Han daraufhin die Verbindung von Narzissmus und Depression, die Logik des Pornos als reinem Ausstellungswert, der dadurch Würde und Geheimnis des anderen vernichtet und die Rolle der Fantasie, die zwischen übergroßer Erwartung an den anderen und Hypervisibilität zu verschwinden droht - hier plädiert Han für den Blick aus halbgeschlossenen Augen, den Abstieg in die "Höhle, in diesen halbdunklen Raum der Traumbilder und des Begehrens."

Hans scharfsinnige Bücher handeln davon, was mit einer Gesellschaft passiert, die zuviel sichtbar macht. Doch ebenso machen sie deutlich, was dadurch verschwindet. Der "Agonie des Eros" folgend, sind es nicht nur Begehren, Fantasie und Erotik, sondern die Möglichkeit der Begegnung mit dem Anderen selbst, sei es als Anfang einer möglichen Liebe oder als politisch-gesellschftliches Ereignis, dessen unvorhersehbares Eintreten eine neue Art von Zukunft verspricht. In der Transparenzgesellschaft herrscht die "Immanenz des Gleichen", eine dumpfe Gegenwart ohne Zeit, Schicksal und Ereignis, bevölkert von pornographisch ausgestellten und zugleich abgestumpften Unternehmern ihrer selbst.

"Sinnlichkeit und Arbeit gehören zur selben Ordnung. Sie sind ohne Geist und ohne Begehren." Der Eros als das uneinholbar Andere ist für Han jedoch nicht nur die Bedingung der Möglichkeit von Liebe, Frische, Veränderung, sondern geradezu eine Grundbedingung des Denkens. "Theorie schlägt eine Schneise der Unterscheidung durch das noch 'Unbegangene'. (...) Sie setzt die Welt in Form." Diese Lust am "Unbegangenen", diese Verlockung zu unbetretenen Wegen, welche die Welt in gänzlich neuem Licht erscheinen lassen, lebt vom Eros. Und zugleich lebt die Theorie von der echten Erfahrung: "Ein Freund, ein Liebhaber muss man gewesen sein, um Denken zu können."

Und so verführt Han den Leser am Schluss nicht nur zum Denken, sondern auch zum Leben. Dass beides für einen Augenblick zusammen zu fallen scheint, gehört zu den Höhepunkten dieses bemerkenswerten Büchleins.

Besprochen von Ariadne von Schirach

Byung-Chul Han: Agonie des Eros
Matthes und Seitz Verlag, Berlin Oktober 2012,
73 Seiten, 10,00 Euro
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