An der Schnittstelle von Schrift und Bild

Von Johannes Halder · 04.11.2006
Ein Piktogramm, so steht es im Duden, ist ein graphisches Zeichen mit international festgelegter Bedeutung. Wir alle kennen diese Zeichen und wissen sie zu deuten: Ampelmännchen, das berockte Figürchen auf der Tür zum Damen-WC oder die durchgestrichene Zigarette. Wie sich die Geschichte dieser Universalsprache in der Kunst entwickelt hat, zeigt eine Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart.
Es war mal wieder Wassily Kandinsky, der den Künstlern früh den Weg gewiesen hat. 1904 experimentierte er mit kürzelhaften Bildzeichen von Pferd und Reiter und entwickelte daraus eine Art abstraktes Markenzeichen: geschwungener Rücken, runder Kopf. Nichts weniger als eine Art bildnerisches Esperanto hatte er damit im Sinn. Doch er spielte, wie man sieht, so lange mit den Formen, bis sie sich am Ende wieder auflösten.

Nein, Künstler wollen nicht wirklich verstanden werden. Kandinskys italienischer Kollege Giorgio de Chirico sprach denn auch später von der "Einsamkeit der Zeichen", die keiner mehr zu deuten wisse, sagt Kuratorin Pirkko Rathgeber:

"Die Einsamkeit der Zeichen ist ein Zitat von Giorgio de Chirico, der zum Ausdruck bringen wollte, dass die zusammengefügte Welt in einzelne Zeichen zerbricht in der klassischen Moderne, und indem sie in einzelne Zeichen zerbricht, die Zeichen auch einsam werden."

Der beklagte Zerfall der vertrauten Bildsysteme in hermetische Chiffren hat in der Moderne dann Methode. De Chiricos Landsmann Alighiero Boetti hat 1967 sogar den Schlüssel zum Zeichensystem seines kryptischen "Manifesto" bei einem Notar hinterlegt, und der hat ihn – soweit wir wissen – auch nach dem Tod des Künstlers nicht herausgerückt.

Dabei hatte die Avantgarde der russischen Revolutionskünstler noch, wie die Stuttgarter Schau in wunderbaren Bilderreihen vor Augen führt, darauf gezielt, die Massen mit Hilfe bunter Zeichenalphabete zu erziehen, sagt Museumsleiterin Marion Ackermann:

"Wir steigen mit der russischen Avantgarde ein, weil es da relativ wenig bekannt ist, wie sich Künstler um eine Universalsprache gekümmert haben und ausgegangen sind von den Bewegungen der Zunge beim gesprochenen Wort. ‚Die Zunge ist eine armlose Tänzerin’, hat Andrej Belyi gesagt. Und daraus wollten sie neue bildnerische Zeichen entwickeln, die eben für jedermann verständlich sein wollten. Auch für Kinder."

Wladimir Majakowski träumte davon, ein Häufchen Künstler könne damit ein 150-Millionen-Volk bedienen – eine Utopie, wie wir inzwischen wissen. Die einzigen Piktogramme, die weltweit siegten, sind kapitalistische Firmenlogos wie Nike, Coca-Cola oder das Dollarzeichen. Aber die Kunst hatte ein neues Spielzeug, und die Ausstellung führt vor, was zeitgenössische Künstler damit anstellen, um solche Strategien auch kritisch zu durchkreuzen.

Natürlich sind die prägnanten Sportpiktogramme zu sehen, die der Gestalter Otl Aicher für die Olympiade 1972 in München entworfen hat; auch Willi Baumeister hat in seinen abstrakten Sportlerfiguren diese Kunst beherrscht, den Moment zwischen Bewegung und Stillstand in einer knappen Chiffre einzufangen. Umso erstaunter ist man, was in der Schau alles zu den Piktogrammen zählt. Ob da ein Künstler Stempel benutzt wie Joseph Beuys oder Dieter Roth, ob einer kalligraphische Zeichen setzt wie Julius Bissier oder archaische Strichmännchen pinselt wie A.R. Penck – an der Schnittstelle von Schrift und Bild verwischen sich die Grenzen zwischen Symbol und Piktogramm, Zeichencode und Graffiti, Icon und Logo, Klischee und Zitat.

Interessant ist hier die Karriere des Hakenkreuzes vom keltischen Glückssymbol zum aggressiv verbreiteten Logo der nationalsozialistischen Weltherrschaft. Der verfemte Paul Klee experimentierte in den braunen Jahren mit den formal äußerst anregenden Nazi-Haken: "Tänze vor Angst" heißt ein Aquarell von 1938 mit stilisierten Hakenkreuz-Figuren. Der Holländer Marc Bijl hat das Logo des Sportschuhfabrikanten Nike zu einem hakenkreuzähnlichen Zeichen montiert, und man muss nicht lange raten, was er damit anprangern will: die Methoden des Markt-Führers.

An langen Ohren herbeigezogen ist freilich der Versuch, im Kapitel "Wiederkehr der Zeichen" den Dürer-Hasen zum Piktogramm zu erklären, nur weil Sigmar Polke mit dem berühmten Vorbild sein witziges Spiel getrieben hat. Das Piktogramm wird hier zu einem Gummibegriff, und wohl nicht zufällig heißt das Schlusskapitel der Schau "Die Welt als Zeichen" – als hätten wir’s geahnt: Auch die Weltkugel ist schließlich ein Piktogramm.

Am Ende sind’s mal wieder die Chinesen, die das richten, was Kandinsky über der Erfindung der Abstraktion vermasselt hat. Der Künstler Xu Bing hat in einer Ecke des Kunstmuseums ein Studio mit zwei Computerplätzen eingerichtet, und Pirkko Rathgeber setzt uns ins Bild, wie die Sache funktioniert:

"An dem Computer selbst kann man sich dann einloggen und man kann mittels dieser neu entwickelten Software dann bestimmte Texte eingeben, und auf dem Computer erscheint dann die Bildsprache. Er hat über Jahre hinweg einen ganzen Kosmos an Zeichen zusammengetragen, weltweit. Er hat die Safety Cards von Airlines gesammelt, er hat Tagebuch geführt und hat alle Zeichen, die ihm begegnet sind, in dieses Tagebuch eingeklebt. Und sein Wunsch ist es eben, eine Universalsprache zu kreieren über eine Internetseite, dass man sich weltweit auf diese Internetseite einloggen kann und tatsächlich mit Bildern kommunizieren kann."

Service: Die Ausstellung "Piktogramme – Die Einsamkeit der Zeichen" ist bis zum 25. Februar 2007 im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen.