An der Grenze zweier Welten

Von Claudia Kramatschek · 30.07.2011
Von 1923 bis 1956 war Tanger, an der nördlichen Küste Marokkos gelegen, eine sogenannte Internationale Zone, ein von europäischen Mächten verwaltetes Territorium mit umfassenden Steuerprivilegien.
Rasch wurde die Stadt zum Auffangbecken für Spione, Schieber und Spekulanten, Tummelplatz für Flüchtlinge und Aussteiger.

Kulturen, Sprachen, Lebensstile prallten aufeinander. Alles - nicht zuletzt Sex - war für Geld zu haben.

1931 entdeckt auch der amerikanische Schriftsteller und Komponist Paul Bowles die Stadt;
1947 lässt sich der Sohn aus puritanischem Hause endgültig in Tanger nieder.
Er bleibt ein halbes Jahrhundert - als scharfer Beobachter, der selbst am liebsten unsichtbar bleibt.

Hier entstehen seine Romane - etwa "Himmel über der Wüste" - und seine meisterlichen Kurzerzählungen. Ihre Schauplätze sind Marokko, Algerien, die Sahara - doch sie handeln von der unüberbrückbaren Kluft zwischen den Kulturen, vor allem aber vom Scheitern des westlichen Way of Life.

Nicht nur Bowles Werk, sein Leben selbst - 1999 stirbt er in Tanger - scheint sich im Modus der Ambivalenz bewegt zu haben: Sein Geheimnis war die Oberfläche; er schlug Wurzeln im Dazwischen, an der Grenze zwischen den Welten.

"Bowles ist erbarmungslos, beklemmend bis ins Detail. Ein Meister im Beschreiben von Albträumen." Die Zeit

Auszug aus dem Manuskript:

" Hier bin ich

Wenn ich hier bin werde ich nichts einwenden
Ich werde lediglich murmeln:
Wenn keiner kommt und hier mich sieht, so ist es gut

Hier fällt es schwer zu glauben irgendetwas sei frei ))
Komm lass uns der Freiheit verfallen
Lass all diese Dinge geringer werden denn Staub
Lass mich an gar nichts denken
Lass die Dinge einander sich nähern
Lass jedwedes Ding lang und sanft währen
Lass den Wind streichen über die Dächer am Mittag
Lass die große Stadt lang liegen unter der Sonne am Mittag
Lass jedwedes Ding sanft währen hier denn da ist kein Staub
Lass alles außer was kommt kommen
So empfand ich schon immer "


1931 kommt Bowles mit gerade mal 21 Jahren zum ersten Mal nach Tanger. Für den Sohn aus einem puritanisch geprägten Elternhaus wird die Stadt nicht nur zum Ausgangspunkt eines Lebens im Zeichen der Rastlosigkeit. Tanger bedeutet für ihn Befreiung und Erweckung zugleich; eine Gegenwelt zu allem, was er bis dato kennengelernt hat. Wenige Tage nach der Ankunft am 8. August 1931 schreibt er in einem seiner zahlreichen Briefe, die er lebenslang verfassen wird, an den amerikanischen Schriftstellerkollegen Édouard Roditi:

" Hier lache ich immer. Das Lachen entspannt mich. Die Araber finden mein Lachen lächerlich, sie selbst lachen ja nie ohne ersichtlichen Grund. Die Trommeln schlagen die ganze Nacht, ihr Rhythmus hält einen wach und lässt einen an die glühende Sonne denken, die einen erbarmungslos schlägt auf den heißen Gipfeln der Berge. Ich war heute Stunden in der Sonne unterwegs, zu Fuß, und wann immer ich mich zwischen Mimosensträuchern hinsetzte, um mich auszuruhen, brachten die Wellen am Fuße der Berge alles wie in schlängelnden Arabesken zum Tanzen. Selbst die weit entfernt im Süden sichtbaren Berge bewegten sich fortwährend ein winziges bisschen. Die Zikaden kreischten unablässig zur Mittagszeit. Ein Boot passierte langsam die Meerenge, Richtung Tarifa. Aber die Sonne ist wieder da, und das ist Grund zu lächeln. Die Krise ist vorüber, wie Poe zu sagen pflegte und wie ich zu sagen liebe, dem Himmel sei Dank! Kann man lernen, aufzuhören, über sich selbst nachzudenken? Das Glück würde sprießen unter den Armhöhlen der Bäume, Skorpione würden vor Freude tanzen und die Felsenkliffe in Ekstase erschaudern. Kann man lernen, sich selbst loszuwerden? "


The official Web site for Paul Bowles

Paul Bowles - Biografische Daten

Jens Rosteck
Jane und Paul Bowles, Leben ohne anzuhalten
Eine Doppelbiografie.
2005 Goldmann
Der elegante Dandy und die scharfzüngige Rebellin Jane und Paul Bowles bleiben eines der faszinierendsten, widersprüchlichsten und rätselhaftesten Autorenpaare des 20. Jahrhunderts. Ihre intensive Verbindung nahm im New York der dreißiger Jahre ihren Anfang, führte das ungleiche Duo auf Reisen nach Mexiko und Mittelamerika, Paris und London und schließlich in das Tanger der Nachkriegszeit, wo sie alsbald Kultstatus genossen. Ihre wechselnden Unterkünfte zwischen Marokko und Sri Lanka avancierten zum Schauplatz mondäner Partys ebenso wie zum Treffpunkt der literarischen Avantgarde: Klassiker der Moderne und Beat-Poeten, aber auch Showstars und Millionäre gingen bei ihnen ein und aus. Eindrucksvoll gelingt es Jens Rosteck, den Mythos Jane und Paul Bowles in all seinen funkelnden Facetten, aber auch in seiner Abgründigkeit nachzuzeichnen und zugleich einer ganzen Ära ein Denkmal zu setzen.

"Leben ohne anzuhalten" verschränkt auf faszinierende Weise Leben und Schreiben von Jane und Paul Bowles und gibt Einblick in ihre spannungsvolle Beziehung zueinander.

Paul Bowles
Himmel über der Wüste
Roman. Dtsch. v. Maria Wolff
2006 Goldmann
Das Ehepaar Port und Kit Moresby glaubt, auf seiner Reise nach Nordafrika die Eintönigkeit seines Daseins überwinden zu können. Das Afrika, das die beiden vorfinden, mit seinen klaustrophobisch engen Altstadtlabyrinthen voll exotischer Fremdartigkeit und seinem schier unendlichen Sternenhimmel, wird ihr Schicksal von Grund auf verändern. Je tiefer sie in die Wüste vordringen, desto unerbittlicher werden sie mit den Abgründen ihrer eigenen Seele konfrontiert. Als Port unterwegs an Typhus stirbt, beginnt für Kit eine Irrfahrt durch die Wüste.


Paul Bowles
Gesammelte Erzählungen Bd.1
Übersetzung: Pociao .
2008 Goldmann
Seine Schauplätze sind ferne exotische Länder mit Namen, die nach Verheißung klingen: Marokko, Corazón, Paso Rojo oder Cold Point. Seine Helden sind rastlose Aussteiger, Vertreter der Lost Generation , die der Enge und Konvention des zivilisierten Alltagslebens entfliehen. Aber über den fremden Orten, von denen Bowles Figuren magisch angezogen werden, liegt in Wahrheit eine Atmosphäre unfassbarer Bedrohung. Fernab der Schranken des zivilisierten Alltagslebens brechen lange verdeckte Abgründe der menschlichen Existenz auf, in denen Bowles Gestalten mit der oft erschreckenden Wahrheit über sich selbst konfrontiert werden.

Paul Bowles
Das Haus der Spinne
Roman. Dtsch. v. F. R. Wendhousen
2007 Goldmann
"Die Frühlingssonne wärmte den Obstgarten. Es war Spätnachmittag, und bald würde sie hinter dem hohen Röhricht am Straßenrand verschwinden. Amar lag unter einem alten Feigenbaum in dem noch taufeuchten langen Gras. Verglichen mit dem Leben seiner Freunde, soweit er es kannte, fand er das eigene am wenigsten beneidenswert. Er wusste, dieser Gedanke war eine Sünde: Niemand durfte so urteilen, und er hätte diese Erkenntnis auch nie laut ausgesprochen, selbst wenn sie sich in seinem Kopf zu Worten verdichtet hätte. Er sah die Bäume und Pflanzen ringsum und den Himmel darüber und wusste, sie waren da. Und er wusste auch, der Grund seiner Unzufriedenheit lag im Ablauf seines kurzen Lebens, das ihn tief enttäuschte. Die Welt war wundervoll mit all den Tieren und Vögeln, die sich bewegten, den Blumen und Früchten, die Allah in solchem Überfluss erschaffen hatte, aber in seinem Herzen fühlte er, dass das alles eigentlich nur ihm gehörte und niemand sonst das gleiche Anrecht darauf hatte wie er. Immer machten andere Menschen sein Leben unglücklich. Lässig gegen den Baumstamm gelehnt, zupfte er sorgfältig die Blätter von einer Rose, die er vor einer halben Stunde gepflückt hatte, als er in den Obstgarten getreten war. Er hatte nicht mehr viel Zeit, um herauszufinden, was er tun könnte. Wenn er davonlaufen wollte, musste es rasch geschehen. Aber er spürte bereits, dass Allah ihm sein Schicksal nicht enthüllen werde. Er würde es nur erfahren, wenn er dem Buchstaben dessen folgte, was geschrieben stand. Alles würde weiter so sein, wie es war. Wenn die Schatten länger wurden, würde er aufstehen und auf die Landstraße hinausgehen, weil die Dämmerung böse Geister aus den Bäumen lockte. Einmal auf der Straße konnte er nur nach Hause gehen. Er musste zurück und sich schlagen lassen; es gab keinen Ausweg."

Auszug aus dem Manuskript:


Was nur wenige wissen: Das Vorbild für Rick's Café befand sich in Tanger, im Hotel Minzah, das mit orientalischem Flair und andalusischem Innenhof noch heute westliche Besucher anlockt. Nur wenige Schritte entfernt, gelangt man zum legendären Café de Paris - einst der regelmäßige Anlaufpunkt nicht allein für Bowles und andere Literaten, sondern auch für unzählige Spione. Heute dient das Café als einer von vielen Treffpunkten der jungen marokkanischen Lost Generation - arbeitslose Desperados, die dort mit Thé au nana oder Café blanc ihre Zeit totschlagen. Verlässt man das Hotel Minzah in entgegengesetzte Richtung über die Rue de la Liberté, gelangt man auf den Grand Socco. An der nördlichen Begrenzung dieses wuseligen Platzes betritt man durch das Bab el Fahs genannte große Tor die Medina, mit ihren kleinen labyrinthischen Gassen, die gesäumt sind von Gold- und Silberschmieden. Im Herzen der Medina dann der Petit Socco. Einst umgeben von unzähligen Cafés, haben an diesem Platz aus der Glanzzeit der Internationalen Zone nur zwei Berühmtheiten überlebt: das Café Central - wo sich zu Bowles Zeiten Barbara Hutton und Somerset Maughan, Truman Capote und Cecil Beaton tummelten - und direkt angrenzend über Eck das Café Tingis, wo Händler und Dealer zur selben Zeit ihre einschlägigen Geschäfte abwickelten. Bowles selbst erwirbt ein baufälliges kleines Haus in der Kasbah, dem ummauerten Teil der Medina, das er aber erst Ende der 50er Jahre beziehen kann. So wandern die Bowles erst einmal von Hotel zu Hotel.

Die Medina auf der einen, die so genannte 'Ville Nouvelle' auf der anderen Seite; hier die westlichen Expatriaes, die von den Dachterrassen aus das Treiben der Einheimischen in einem der damals ärmsten Länder der Welt betrachten; dort die Einheimischen selbst, Staffage und Dienerschaft im eigenen Land: Bereits zu der Zeit, als Tanger internationale Zone war,, war die Stadt zweigeteilt. Bowles ist als Amerikaner zwar Teil des Establishments. Doch das hält ihn nicht davon zurück, die leere Geschwätzigkeit und eitle Selbstverliebtheit der Haute volée in seinem Roman "So mag er fallen" 1952 mit unverhohlener Kritik zur Schau zu stellen.

" Daisy de Valverde saß an ihrem Toilettentisch. Ihr Gesicht schimmerte im Licht von sechs kleinen Strahlern, die es aus sechs verschiedenen Richtungen beleuchteten. Wenn sie sich in der erbarmungslosen Helle dieser grellen Lampen zu ihrer Zufriedenheit schminkte, konnte sie sich später in jeder Beleuchtung sicher fühlen. Aber das erforderte Zeit und Technik. Die Villa Hesperides war niemals ohne Strom, selbst jetzt nicht, wo die Stadt nur jeden zweiten Abend für zwei Stunden mit Elektrizität versorgt wurde. Dafür hatte Luis gesorgt, als sie das Haus bauten: es gehörte zu den Reizen der Internationalen Zone, dass man alles bekommen konnte, wenn man dafür zahlte. Und sich übrigens auch alles erlauben konnte - es gab niemanden, der nicht bestechlich war. Alles war nur eine Preisfrage. (...)

Sie freute sich immer, wenn Amerikaner ins Haus kamen, den sie fühlte sich ihnen gegenüber ungehemmt. Sie konnte soviel trinken, wie sie wollte, und sie tranken mit, während die englischen Gäste einen Whisky über eine Stunde ausdehnten von den Franzosen ganz zu schweigen, die einen Martini verlangten, der aus Wermut mit einem Spritzer Gin bestand, oder den Spaniern mit ihrem Glas Sherry. 'Die Amerikaner sind die kommende Nation', pflegte sie mit ihrer munteren Stimme zu verkünden. 'Auf ihr Wohl. Gott segne ihre technischen Spielereien, die großen und die kleinen. Gott segne Frigidaire, Tampax und Coca-Cola. Jawohl, auch Coca-Cola.' "

Musikliste


Titel: aus: Konzert für 2 Klaviere, Bläser und Schlaginstrumente,
(1) Allegro
(2) Scherzo
Länge: 05:49
Ensemble: Kretzschmar, Hermann (Klavier)
Komponist: Paul Bowles
Label: Largo Records
Best.-Nr: Largo 5131

Titel: Night Waltz
Länge: 04:04
Solist: Hermann Kretzschmar (Klavier)
Solist: Olga Balakleets (Klavier)
Ensemble:
Komponist: Paul Bowles
Label: Largo Records
Best.-Nr: Largo 5131

Titel: Gnawa
Länge: 04:13
Interpret: SACAV
Komponist: SACAV
Label: keine
Best.-Nr: keine

Titel: Fes
Länge: 01:30
Interpret: Fes Matic
Komponist: Fes Matic
Label: keine
Best.-Nr: keine

Titel: Sounds from the Jemaa El Fna
Länge: 00:45
Interpret: Ensemble
Komponist: Paul Bowles
Label: sub rosa
Best.-Nr: keine
Plattentitel: CD: Black Star at the point of darkness

Titel: here I am
Länge: 00:55
Interpret: Ensemble
Komponist: Paul Bowles
Label: sub rosa
Best.-Nr: keine
Plattentitel: CD: Black Star at the point of darkness

Titel: Osbah Solo by Zaan of the Jilala de Tanger
Länge: 01:30
Interpret: Ensemble
Komponist: Paul Bowles
Label: sub rosa
Best.-Nr: keine
Plattentitel: CD: Black Star at the point of darkness

Titel: Six Preludes for Piano
Länge: 03:45
Interpret: Ensemble
Komponist: Paul Bowles
Label: sub rosa
Best.-Nr: keine
Plattentitel: CD: Black Star at the point of darkness

Titel: Nights
Länge: 00:45
Interpret: Ensemble
Komponist: Paul Bowles
Label: sub rosa
Best.-Nr: keine
Plattentitel: CD: Black Star at the point of darkness

Titel: Next to nothing
Länge: 02:20
Interpret: Ensemble
Komponist: Paul Bowles
Label: Metastation
Best.-Nr: keine
Plattentitel: CD: Baptism of Solitude

Titel: Jil
Länge: 01:30
Interpret: Jil Jilala
Komponist: Jil Jilala
Label: Edition Hassania
Best.-Nr: BMDA 05-24 05 EH 2022

Titel: Al-jawad
Länge: 01:00
Interpret: Jil Jilala
Komponist: Jil Jilala
Label: Edition Hassania
Best.-Nr: BMDA 05-24 05 EH 2022

Titel: Al qods
Länge: 06:30
Interpret: Jil Jilala
Komponist: Jil Jilala
Label: Edition Hassania
Best.-Nr: BMDA 05-24 05 EH 2022

Titel: Rih Albarah
Länge: 02:40
Interpret: Jil Jilala
Komponist: Jil Jilala
Label: Edition Hassania
Best.-Nr: BMDA 05-24 05 EH 1274

Titel: Baba Maktuobi
Länge: 02:30
Interpret: Jil Jilala
Komponist: Jil Jilala
Label: Edition Hassania
Best.-Nr: BMDA 05-24 05 EH 1274

Titel: The source
Länge: 03:10
Interpret: the Master Musicians of Jojouka
Komponist: Jojouka
Label: Le Son de Maqius
Best.-Nr: keine

Titel: Hanging out in Jajouka
Länge: 05:10
Interpret: the Master Musicians of Jojouka
Komponist: Jojouka
Label: Le Son de Maqius
Best.-Nr: keine

Titel: Letter to Freddy
Länge: 01:50
Interpret: William Sharp
Komponist: Gertrude Stein / Paul Bowles
Label: NEW WORLD RECORDS
Best.-Nr: 80369


" Es vergeht kaum ein Nachmittag ohne den Besuch von Personen, die ich je zuvor gesehen habe noch je wieder sehen werde. Angesichts der Zeit, die ich dafür aufwende, erscheint mir mein Leben wie ein statisches Etwas, so, als läge eine nicht endende Anzahl solcher Jahre vor mir. All das wurde erst im vergangenen Jahr wirklich problematisch. Dass ich kein Telefon besitze, macht es umso schlimmer: Diese Leute kommen von weit her und klopfen dann an meine Tür - so ist es schwierig, sie abzuweisen. Einer kam in dieser Woche jeden Nachmittag. "


Plötzlich steht Bowles wieder im Mittelpunkt des Interesse. Interviewer und Journalisten, Wissenschaftler und Dokumentarfilmer geben sich im Itesa Immeuble die Klinke in die Hand. Schwer zu sagen, ob Bowles eher gnädig - oder schlicht geschmeichelt ist. Manchmal verschwinden in den Taschen der weniger seriösen Besucher auch kleine Gegenstände von Bowles' Hab und Gut. Bowles sieht offenbar auch darüber hinweg. Seine Tür bleibt weiter für alle offen.

" Sich unten am Eingang, da die Klingel nicht zu funktionieren scheint und die Namensschildchen bis zur Unkenntlichkeit abgeblättert sind, nach dem alten Herrn, den hier im Haus nur alle Senor Paul nennen, durchfragen. ... An die angelehnte Wohnungstür anklopfen und, ohne eine Antwort zu bekommen, vorsichtig eintreten. Nichts innerhalb dieser vier Wände deutet darauf hin, dass es deren Bewohner zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat, alles hingegen auf den spartanischen Lebensstil eines einzelgängerischen Individualisten. Sich vorbei tasten an den in die Flurecken gestopften Halden von Koffern und Gepäckstücken, auf denen vergilbte Aufkleber versunkener Dekaden prangen, so dass sie einem fast den Weg versperren. Sich durch die Falten eines schweren grünen Samtvorhangs, von Staubwolken umhüllt, nach vorne kämpfen. Nach Luft ringend tiefer hinein in die kleine Wohnung, an deren Innenwänden sich Büchergebirge türmen... Die wenigen Strahlen gefilterten Lichts lenken allmählich den Blick auf einen schönen greisen Herrn, makellos gekämmt, aufrecht im Bett sitzend, Buch und Schreibutensilien auf den Knien... 'Ah, there you are', murmelt er zur Begrüßung unterschiedslos, auch Freunden gegenüber, die er seit Jahren nicht gesehen hat. "

Entrinnen kann er seinen Besuchern sowieso nicht. Seit Anfang der 90er Jahre ist Bowles aufgrund von Operationen und einer schwächer werdenden physischen Verfassung mehr oder weniger ans Bett gefesselt. So lebt er in einem paradoxen Zustand: zum einen extrem zurück gezogen von der Welt, zum anderen extrem verfügbar für eben das Lärmen der Welt, vor dem er sich an diesem abgeschiedenen Ort zu schützen sucht. Wie sehr er die Betriebsamkeit jenseits seiner vier Wände verabscheut, belegt ein so genannter "Offener Brief", den Bowles bereits 1980 verfasst und den er im Journal de Tanger abdrucken lässt - ein bösartiges Manifest wider die fragwürdigen Verheißungen der Moderne und ein zynischer Aufruf zum Massenmord im Zeitalter der Massengesellschaft.

" Offener Brief - an alle, die hoffen, die kommende Dekade zu überleben

Mit dieser Botschaft wenden wir uns an die kleine Zahl jener, die es aus dem einen oder anderen Grund bevorzugen, die 80er Jahre zu überstehen. Die Idee der Demokratie, auf der - so nimmt man gerne an - die Zivilisation des 20.ten Jahrhunderts zu fußen scheint, macht es notwendig, dass jede noch so kleine Minderheit zu ihrem Recht gelangt. Daher unterbreiten wir die folgenden Vorschläge, denn wir wollen unnötiges Leid verhindern.

Haben Sie bereits bei unserer Gesellschaft für Internationale Humanität ihre persönlichen Zyanid-Tabletten geordert - kein Problem! All jenen, die in abgelegen Gegenden leben, sei versichert: Unser Lieferservice wurde verbessert. Schon im April dieses Jahres wird jeder Bürger jeden Landes, der unsere Organisation zu schätzen weiß, seine eigenen Tabletten erhalten haben.

Ein Wort zur Warnung: Seit kurzem wird der Markt mit billigen Nachahmungen überflutet. Diese sind in keiner Weise von der Gesellschaft für Internationale Humanität anerkannt - wir raten daher dringend von deren Gebrauch ab. Im Falle etwa einer Einnahme von Tabletten der Marke Addios tritt der Tod erst eine halben Stunde später ein. Wer einen mühelosen Abgang will, findet kein besseres Produkt als unsere hauseigenen Zyanid-Tabletten, die aufgrund spezieller Säuren sofortige Erlösung bieten. Kein Koma, keine Schmerzen. Zudem ist unser Service garantiert kostenlos.

Böse Zungen behaupten, die Gesellschaft für Internationale Humanität 'empfehle' den Gebrauch der Tabletten. Dem ist nicht so. Wir bieten sie vielmehr all jenen, die danach verlangen. Die weltweite Nachfrage spricht für sich selbst. Daher möchten wir diesen Brief nicht zuletzt auch dafür nutzen, noch einmal an all jene dickköpfigen Existenzen zu appellieren, die fest entschlossen scheinen, die 80er Jahre ohne medikamentösen Beistand überstehen zu wollen.

Kommen wir als Erstes zu den Gütern des täglichen Lebens: Luxusartikel wie Fleisch, Fisch, Geflügel, Milch, Eier, Butter, Zucker, Früchte und Gemüse werden bald rar sein. Die Einnahme von Ersatzproteinen, wie etwa dem jüngst entwickelten Protoproximal, wird daher unumgänglich. Eine neue Einstellung zum Essen ist gefordert, Konzepte wie 'essbar' und 'nicht essbar' sind hinfällig, da sie nicht mehr den Gegebenheiten entsprechen. Der Verzehr von Katzen, Hunden und Ratten dagegen könnte laut Wissenschaftlern auf unabsehbare Zeit unser Überleben garantieren - zubereitet aus den Händen einer exzellenten Hausfrau, ergeben diese Tiere zudem köstliche Gerichte. Um den Gaumenliebhabern auch in den kommenden Jahren etwas zu bieten, hat unsere Gesellschaft für Internationale Humanität daher drei Handbücher heraus gegeben: 50 köstliche Katzen-Rezepte; Das Tier - dein bester Freund und wie du ihn am besten kochst und Wie die Ratte zur Vollendung kommt (mit einem Extra-Kapitel über die Zubereitung von Mäusen). Zum ersten Mal in der Geschichte werden diese Nahrungsmittel - auf die man bislang nur in Extremsituationen und dann ohne jegliches Fachwissen zurückgegriffen hat - nun von Ernährungswissenschaftlern und Küchenchefs gewürdigt, so dass jedermann von deren Expertise profitieren kann. Denn was wir heute gerne verzehren, wird in wenigen Jahre nicht mehr lieferbar sein, nicht zuletzt aufgrund von Benzinmangel. Wir müssen uns also in der Kunst üben, alle Pflanzen, die man verspeisen kann, zu erhalten und zu ernten. Jedes Jahr verrotten beispielsweise Tonnen an Gras. Solche großartigen, natürlichen Ressourcen gilt es zu nutzen. Die Bewohner von tropischen Ländern werden sicher weniger Probleme haben, an Essen zu gelangen - ihnen drohen jedoch mehr Krankheiten. Auch Geld ist nicht das Problem, es wird sowieso gänzlich wertlos sein. Auch die käuflich erwerbbaren Güter des Massenkonsums werden allmählich verschwinden. Der wenige Raum, der zum Leben noch verfügbar sein wird, dürfte jenen, die Privatsphäre gewöhnt gewesen waren, große Schwierigkeiten bereiten. Angesichts eines steten Bevölkerungswachstums und des drohenden Mangels an Wohnraum scheint uns eine Nutzfläche von 15 Kubikmetern pro Person für das kommende Jahrzehnt absolut utopisch. 10 Kubikmeter pro Person werden die Obergrenze sein. Wer bis dato in einem eigenen Haus oder in einem eigenen Apartment gelebt hat, wird sich einschränken müssen - sicher ein Anlass für manche Unzufriedenheit. Daher einige praktische Hinweise:

Noch das kleinste Zuhause lässt sich angenehm gestalten. Schneiden Sie zum Beispiel ein Dreieck aus dickem Schaumstoff und platzieren Sie es auf den Boden in der Ecke des Zimmers; diese Sitzgelegenheit können Sie mit Tüchern und ausgestopften Säcken verzieren. Die Wände können Sie mit den Titelbildern ausgesuchter Magazine oder mit Werbeanzeigen schmücken. Haben Sie sehr viel Zeit, dann basteln Sie doch aus diesen Bildern Ihre ganz persönliche Collage. Für ein wenig Privatsphäre bauen Sie sich einen Sichtschutz aus Getränkekisten, den Sie gegebenenfalls mit buntem Papier bekleben, um ihm jenen gepflegten Look zu verleihen, den die Hausfrau von heute so schätzt.

Die Vorstellung, frische Luft sei unabdingbar für einen gesunden Schlaf, wurde schon vor 50 Jahren für nichtig erklärt. Versuche haben gezeigt, dass die menschliche Spezies es vorzieht, sich zum Schlafen eher in einen luftgeschützten Raum zu verziehen. Es ist daher egal, ob Sie mit vielen anderen Menschen in einem Raum schlafen oder allein, in einem Zimmer mit geöffnetem Fenster. Ein beengtes Zusammenleben kann zudem ein wahrer Segen sein: Es vermag marodierende Banden hungriger Teenager von Überfällen abzuhalten.

Die 80er-Jahre kann nur überstehen, wer es versteht, sich diesen widrigen Lebensumständen anzupassen. Ein neuer Lifestyle ist gefragt, denn die Lage wird sich weiter verschlechtern. Doch schlechtere Lebensbedingungen sind kein Grund für ein Leben in Schäbigkeit. Bei der Auswahl unserer Kleidung ist fortan einzig von Belang, dass sie den Körper und seine Funktionen aufrechterhält. Je nach Jahreszeit wird die Anzahl unserer Kleidungsstücke variieren: Im Frühling hüllen wir uns nicht mehr in drei Pullover, eine Decke und Fausthandschuhe, sondern nur in zwei Pullover und keine Decke. Das ist die Poesie unserer neuen Funktionalität. Denn gerade die schlichten Dinge des Lebens sind oftmals die schönsten Dinge im Leben.

Auch die Nächte müssen Sie nicht in totaler Finsternis verbringen. Entwerfen Sie Ihre eigene Lampe aus einem Stück Tuch, das Sie mit Pflanzenöl tränken; bringen Sie es in eine interessante Form und drapieren Sie es auf einem kleinen Teller. Diese Lampen verbreiten einen matten, romantischen Lichtschein. Das ideale Kleidungsstück, um im Winter in der Ecke zu hocken, ist eine große Wolldecke, mit einem Schlitz in der Mitte für den Kopf. Sie sehen: Auch Sie können es sich in Ihrer Zimmerecke gemütlich machen - es hängt allein von Ihnen ab.

Die Gesellschaft für Internationale Humanität ist überzeugt: Sollte das Leben überhaupt der Mühe wert sein (und ein paar Leser dieser Zeilen glauben fest daran), dann lohnt sich auch die Anstrengung, der drohenden Eintönigkeit des Lebens einen Sinn zu verleihen. Das Leben ist schön - nicht obwohl, sondern weil es mühsam ist. Soweit unsere Neujahrsbotschaft an alle, die mutigen Herzens sind.

Und vergessen Sie nicht: Unsere Zyanid-Tabletten liegen jederzeit für Sie bereit.

Paul Bowles
Leiter der Öffentlichkeitsarbeit
Gesellschaft für Internationale Humanität "


Wie jeder schlechte Scherz enthält auch dieser ein Gran Wahrheit. Denn Bowles war als Mensch und als Autor ein radikaler Anhänger der Exklusivität. Am Ende eines Filmporträts, das 1969 über ihn gedreht wird, antwortet er auf eine Frage: Nein, er sei kein Humanist. Und faustisch lächelnd fragt er zurück: Muss man das denn sein? Ihm ging es nicht um Aufklärung, Emanzipation oder Integration. Ihm ging es um Differenz. Er möchte nicht, dass die Welt sich verändert, damit er sich erlauben kann, gegen die Welt zu stehen. Er, der privilegierte Individualreisende, beklagt sich in seinen letzten Lebensjahren immer häufiger über den Verlust der Authentizität im Zeitalter des Massentourismus, in einer Mischung aus Trauer und Herablassung. Wer Bowles zu seinem Verhältnis zu Marokko oder besser den Marokkanern befragt, erhält nun gelegentlich die verdrießlichen Antworten eines misanthropisch anmutenden Herrn, der seine Wahlheimat schon mal als 'Dritte-Welt-Land' abklassifiziert. Er weiß, dass man die Welt nicht verändern kann - denn schon der Mensch, mit dem man zusammenlebt, ist ein unergründbarer Fremder. Seine Texte sind daher so anti-touristisch wie Erkenntnis verweigernd. Keine Auflehnung also, keine quälenden philosophischen Fragen. Der einzige Lebensmodus, der bleibt, ist: warten. Und die perfekte Gleichgültigkeit pflegen, die Paul Bowles, der Meister der literarischen Unergründbarkeit, bis zur Vollendung beherrscht hat.

" Alles, was er je gedacht oder getan hatte, war nicht von ihm gedacht oder getan worden, sondern von einem Teil der großen Masse von Lebewesen, die nur deshalb so handelten, weil sie sich auf dem Weg von der Geburt zum Tod befanden. Er war nicht länger mehr Teil dieser Masse: nun, da er sich aufgegeben hatte, konnte er von niemandem mehr Hilfe erwarten. Wenn ein Mensch nicht mehr auf dem Weg zu irgendetwas war, wenn das Leben etwas anderes, vollkommen Verschiedenes war, wenn Leben nur noch eine Frage des Daseins während eines einzigen langen, ununterbrochenen Augenblicks war, dann war das beste, was er tun konnte, ruhig dazusitzen, und zu 'sein', und was immer auch geschehen würde, er würde 'sein'. Was immer auch ein Mensch dachte, sagte oder tat - die Tatsache seines Denkens blieb unveränderlich. Und der Tod? Er fühlte, dass er eines Tages, wenn er weit genug dachte, zu der Erkenntnis kommen würde, dass auch der Tod nichts änderte. "

Am 18. November 1999 stirbt Paul Bowles, nur wenige Wochen vor dem Anbruch des neuen Jahrtausends, im italienischen Krankenhaus von Tanger an Herzversagen. Noch in diesem letzten Akt erweist er sich als ein Meister der Überraschung und als ein Mann mit schier unendlichen Gesichtern, indem er einen verblüffenden Schlusspunkt unter das Buch seines Lebens setzt: Bowles lässt sich nicht in Tanger begraben, sondern in Lakemont an der amerikanischen Ostküste, im heimischen Familiengrab. Er, der so früh das Weite suchte und seine Existenz um die halbe Welt gespannt hat, kehrt heim in den Schoß seiner Eltern und Vorfahren. Ein Kreis schließt sich, als Bowles' Asche am 1. November 2000 auf amerikanischem Boden beigesetzt wird.