Amour fou auf dem Planeten "Anti-Terra"

26.01.2011
Vladimir Nabokov gehört nicht eben zu den simpelsten Autoren, aber "Ada oder Das Verlangen" von 1969 schießt unter seinen Romanen wohl den Vogel ab. Er schildert die lebenslange Amour fou zwischen Bruder und Schwester. Aber wie!
Gern verhöhnte Nabokov dickleibige, herkömmliche Familienromane voller Schicksalsschläge wie Thomas Manns "Buddenbrooks" oder John Galsworthys "Forsyte Saga". "Primitive Epik" hätte er sie mit Robert Musil nennen können. "Ada oder das Verlangen" ist selber dickleibig, 800 Seiten, die allerdings alles andere als primitiv sind. Sie zeichnen sich durch die Verselbständigung der Form, die Eigendynamik des Literarischen und die Nichtbeachtung alles Realen aus. Ein Kritiker maliziös: "Finnegans Wake", Joyces Paradebeispiel des unlesbaren Romans, "hat ihm offenbar keine Ruhe gelassen".

Gleich die ersten drei Kapitel sollen uns in die Materie und die Genealogie der handelnden Personen einführen, aber sie klären nichts, sie sind vielmehr verwirrend und abschreckend – nicht wegen "exotischer, russischer Namen" (wie Nabokov insinuierte), sondern weil sie angestrengt, schwülstig und überladen sind. Die Empfehlung: überspringen und mit Kapitel 4 anfangen!

Dann ist es noch kompliziert genug. Aber auch herausfordernd. Der Roman ist gespickt mit Wortspielen, Anagrammen, Anspielungen und Zitaten (die Übersetzung eines solchen Monstrums – diese hier ist die Bearbeitung der früheren von 1974 – ist an sich schon eine Herkulesarbeit). Noch schwerer wiegt, dass Zeit und Raum ein Eigenleben führen. Wir befinden uns auf dem Planeten "Anti-Terra", in "Amerußland" oder "Estoty", und die Romanzeit – Ende des 19. Jahrhunderts bis ins 20. – ist eher den "Erlebenden zugeordnet" als einem Kalender oder einer Uhr.

Geschildert wird die Amour fou zwischen Ada, 12, und Van, 14, Kusine und Vetter, die sich bald als Bruder und Schwester herausstellen. Es ist eine leidenschaftliche, besessene Liebe, die ein Leben lang währt. 1884 lernen sie sich auf dem Anwesen von Adas Familie Ardis kennen, einem immergrünen Arkadien. Mit teilweise jahrelangen Unterbrechungen sehen sie sich immer wieder, die Leidenschaft bleibt bestehen, die Erotik kommt nicht zu kurz, und wenn auch Ada nicht kurzerhand mit der berühmteren Lolita gleichgesetzt werden kann, so ist der Blick des Lolita-Verehrers Humbert Humbert in der vor uns liegenden "Familienchronik" immer zu spüren. Van ist 97 Jahre alt, als er sie 1967 beendet.

Fast 400 Seiten zählt der Anhang, der den Band zu einer aufregenden Schatztruhe macht, gefüllt von philologischen Detektiven. Darin stecken ein Nachwort des Herausgebers Dieter E. Zimmer, Ortserklärungen, Abbildungen, Nabokov-Interviews über "Ada" und vor allem detaillierte Anmerkungen (die Nabokovs eigene von 1970 integrieren). Dort entdecken wir faszinierende geheime Verbindungen und überraschende Quellen, die so manch kalauernde Peinlichkeit des Buchs vergessen lassen. Lieblingsmonat des Autobiographen Van ist übrigens der April: Der macht, was er will.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Vladimir Nabokov: Ada oder Das Verlangen. Eine Familienchronik
Aus dem Englischen von Uwe Friesel und Dieter E. Zimmer
Gesammelte Werke, Band XI, hrsg. von Dieter E. Zimmer
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010
1184 Seiten, 38 Euro