Amir Hassan Cheheltan: "Der Zirkel der Literaturliebhaber"

Ein Denkmal für die befreiende Kraft der Literatur

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Das Buchcover des Romans "Der Zirkel der Literaturliebhaber" auf orangenem Hintergund.
Jeden Donnerstag kamen in das Elternhaus Cheheltans acht Gäste, um mit den Eltern und später auch ihm selbst über Literatur zu sprechen. Daraus ist ein Roman entstanden. © C.H.Beck
Von Ingo Arendt · 25.03.2020
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Das Schah-Regime, die Diktatur der Mullahs und der Krieg gegen den Irak: Eine Zuflucht aus dieser feindlichen Außenwelt findet der junge Iraner Amir in der Literatur. Sie ist sein Paradies und sein Weg zur intellektuellen Emanzipation.
Der gelernte Elektriker Amir Hassan Cheheltan, 1956 in Teheran geboren, ist mit seinen fünf bislang in Deutschland erschienen Werken zu einem der wichtigsten literarischen Interpreten der politischen und sozialen Widersprüche des Iran seit der Revolution von 1979 geworden. In "Der Zirkel der Literaturliebhaber" verarbeitet er nun zum ersten Mal seine eigene Familiengeschichte.
Cheheltans jüngstes Werk ist ein Bildungsroman, in dem er selbst die Hauptrolle spielt. Jeden Donnerstag treffen sich im Teheraner Haus seiner Eltern acht Freunde zu einem Literaturzirkel. Diese Tage "versetzen mich in mein ganz persönliches Paradies, das mir mein liebstes beschert hat: die Freude an der Literatur", beschreibt der junge Amir das Initiationserlebnis seiner Jugend im Rückblick.
Verpackt hat Cheheltan das Ganze in einen Coming-of-Age-Roman. Amir erblickt zum ersten Mal die Scham seiner Mutter, gewöhnt sich an die "Sünde" des Masturbierens, später zieht er als Soldat in den Krieg gegen den Irak. Seine Adoleszenz gibt den Rahmen ab, in dem Cheheltan eine doppelbödige Poetologie entwickelt.
Deren einer Teil ist das Motiv des Eskapismus. In der Welt draußen toben die Aufstände im Iran, das Schah-Regime wird von der Diktatur der Mullahs abgelöst, ständig sterben Unschuldige. Frieden und Liebe findet der Zirkel nur auf seiner "kleinen, abgeschiedenen Insel".

Literatur gegen Orthodoxie

In dem Gästezimmer mit dem perlenbestickten Kanapee sitzt die "Zufluchtsrunde" und diskutiert über Mevlana Rumis Poem "Masnavi" oder Ferdosis Nationalepos "Buch der Könige".
Dem Motiv des Rückzugs stellt Cheheltan das der geistigen Öffnung gegenüber. Je selbstständiger Amir in seiner Lektüre wird, desto mehr rebelliert er gegen die konservative Interpretation der klassischen Schriften in dem Zirkel – bis hin zu dessen zeitweiligem Boykott. Als Sinnbild für die freizügige Kraft der Literatur, gegen jede Form von Orthodoxie oder Erhabenheit dienen Amir die von dem Zirkel unterschlagenen pornografischen Seiten der Klassiker – vor allem deren unverblümte Schilderung homosexueller Liebe.
Einfühlsam und plastisch zeichnet Cheheltan die intellektuelle Emanzipation Amirs nach. Prätentiös wird sein Buch nur dann, wenn er aus dem literarischen Kammerspiel ein literaturtheoretisches Proseminar macht. Die Alternativ-Lesarten, die der Ich-Erzähler als Jugendlicher entwickelt, erklärt er nachträglich gern mit Theorien von Paul Ricœur bis Julia Kristeva.
Als Amirs Vater stirbt, fällt die "kleine, schöne Welt, die uns jahrzehntelang wie ein Schutzmantel vor äußeren Bedrohungen bewahrt hatte" der Planierraupe zum Opfer. Mit seinem Buch hat Amir Hassan Cheheltan dem lebensprägenden Faszinosum Literatur, die sich darin entwickelte, ein intimes und zugleich exemplarisches Denkmal gesetzt. Zum Glück ist diese Kraft nicht an einen festen Ort gebunden. Cheheltans Werk beweist es.

Amir Hassan Cheheltan: "Der Zirkel der Literaturliebhaber"
Aus dem Persischen von Julia Himmelreich
C.H.Beck, München 2020
252 Seiten, 23 Euro

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