"Am siebten Tag sollst Du ruhen"

Von Ralf Bei der Kellen · 07.11.2009
"Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen", heißt es im Alten Testament. Das Gebot der Sonntagsruhe hat eine lange Tradition in christlichen Ländern. In Deutschland wurde es vor 90 Jahren in Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung gesetzlich festgeschrieben. Aber: Warum sollen wir eigentlich ruhen? Um uns als "ordentliche Christen" zu erweisen oder weil der Staat es anordnet? Ist das Gebot in Zeiten von Globalisierung und einem omnipräsentem Internet gar veraltet?
"Sechs Tage sollst Du Deine Arbeit tun; aber des siebten Tages sollst Du feiern, auf dass Dein Ochs und Esel ruhen und Deiner Magd Sohn und der Fremdling sich erquicken."

Geissler: "Das Internet kennt keinen Sonntag, es kennt auch keinen Tag und keine Nacht, es kennt keinen Sonntag! Das heißt: Sie können am Sonntag das Gleiche machen wir am Werktag."

"Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten."

Geissler: "Der Sonntag ist die klassische Form des "Dazwischen", die Dehnungsfuge sozusagen, die jedes Gebäude zur Stabilisierung braucht, eine Dehnungsfuge – wenn wir die wegmachen, stürzt das Gebäude ein. Und das heißt: Unsere Zeitstruktur stürzt ein. Und das hat böse Folgen."

Müssen wir den Sonntag schützen, damit er uns vor uns selbst schützt?

Sonntagmorgens in einer niedersächsischen Kleinstadt. Pünktlich um zehn vor zehn Uhr laden die Glocken der evangelischen Kirche in der Ortsmitte die Menschen zum Gottesdienst ein. Die meisten Menschen, die an diesem morgen unterwegs sind, haben sich allerdings für den Besuch des Tempels auf der gegenüberliegenden Straßenseite entschieden.

Wo früher ein Bäcker seinen Laden hatte, steht seit zwei Jahren ein "Konsumtempel" – ein gigantischer Supermarkt. Anfangs hatte an Sonntagen nur die Bäckerei im Foyer geöffnet – frische Brötchen sind für viele Menschen ein unverzichtbares Sonntagsritual. Vor einem Jahr entschloss sich die Leitung des Supermarktes, Sonntagmorgens von acht bis elf den Markt fast vollständig zu öffnen.

Elf Uhr. Die wenigen Menschen, die die Kirche verlassen, blicken auf den gut gefüllten Parkplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das sonntagmorgendliche Szenario in dieser Kleinstadt erscheint geradezu als Sinnbild für den veränderten gesellschaftlichen Stellenwert des Sonntags.

Müssen wir den Sonntag schützen, damit er uns vor uns selbst schützt? (0'05)

Immer mehr Menschen müssen oder wollen Sonntags arbeiten. Das ist nicht zuletzt einem grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel geschuldet. War der im Grundgesetz festgeschriebene arbeitsfreie Sonntag in den letzten 20 Jahren immer wieder Zankapfel zwischen Einzelhandelsverbänden und Industrie einerseits und der Kirche, gesellschaftlichen Gruppen und dem Gesetzgeber andererseits, so haben die neuen Medien – allen voran das Internet – eine ganz neue Situation geschaffen, wie der Wirtschaftspädagoge, Philosoph und Zeitforscher Karlheinz Geissler erklärt:

"Das Internet kennt ja keine gemeinsame Zeitstruktur, das heißt also: Jeder kann machen, was er Lust hat, und das kann er in (einer) Hülle und Fülle machen. Und dieses Internet hat natürlich auch den Sonntag beeinflusst, denn: Das Internet kennt keinen Sonntag, es kennt auch keinen Tag und keine Nacht, es kennt keinen Sonntag! Das heißt: Sie können am Sonntag das Gleiche machen wie am Werktag. Eine Mehrzahl meiner Kollegen bestellt die meisten Bücher, die sie bestellen, am Sonntag – was früher nie der Fall war, keine Buchhandlung hatte auf. Aber in dem Moment, wo es Internetbestellungen gibt, Internethandel gibt, verlagert sich ganz viel auf den Sonntag."

Das Internet ist heute das, was Frank Sinatra Ende der 70er-Jahre über New York sang: Die Stadt, die niemals schläft – allerdings virtuell. Tatsächlich war New York als Schmelztiegel der Kulturen eine Art Vorwegnahme unserer immer stärker von der Globalisierung bestimmten Welt:

Zwar kennt fast jede Kultur und jede Religion einen heiligen und daher häufig arbeitsfreien Tag. Dieser liegt aber traditionell auf unterschiedlichen Wochentagen: Muslime heiligen den Freitag, Juden den Sabbat, also den Samstag und die Christen den Sonntag. In New York machten also auch ständig Menschen Pause, aber nie alle zur gleichen Zeit.

Eine globalisierte Wirtschaft erhöht den Druck, die spezifischen Feier- oder Ruhezeiten einzelner Kulturen und Religionsgemeinschaften in den Hintergrund zu drängen. Durch das Internet gelangt diese globalisierte Welt in das kleinste Dorf und in jedes Wohnzimmer. Die zunehmende Säkularisierung hat die religiöse Bedeutung des Sonntags in Mitteleuropa zusätzlich zurückgedrängt. Es scheint ein wenig so, als ob wir uns langsam vom Sonntag als allgemein arbeitsfreiem Tag verabschieden müssten. Aber: ist dem wirklich so? Eine Antwort auf diese aktuelle Frage gibt erstaunlicherweise die Bibel:

"Sechs Tage sollst Du Deine Arbeit tun; aber des siebten Tages sollst Du feiern, auf dass Dein Ochs und Esel ruhen und Deiner Magd Sohn und der Fremdling sich erquicken."

So heißt es im 23. Kapitel des 2. Buch Mose, in denen die Überlieferung der zehn Gebote Gottes an die Israeliten beschrieben wird. Hier wird die Funktion des Sonntags als Pause betont.

Karlheinz Geissler: "Natürlich ist der Sonntag – genau wie Pause – ein Recht auf Menschenwürde und wie Schlaf und wie zum Beispiel auch Stabilität und Orientierung. Wenn Sie den Sonntag abschaffen, haben Sie keine Orientierung mehr, wo Sie gerade sind, dann haben Sie quasi keine Struktur mehr. Und ich finde, das ist ein Menschenrecht, dass ich mich orientieren kann, um überhaupt quasi zu wissen: Wo bin ich? Und nicht in einem Nichts, in einem Nirwana verschwinde. (…) Das heißt also: Pausenlosigkeit ist eigentlich eine Folter und nicht etwas Ersehntes."

Müssen wir den Sonntag schützen, damit er uns vor uns selbst schützt? (0'05)

Karlheinz Geissler: "Der Sonntag ist die klassische Form des 'Dazwischen', die Dehnungsfuge sozusagen, die jedes Gebäude zur Stabilisierung braucht, eine Dehnungsfuge – wenn wir die wegmachen, stürzt das Gebäude ein. Und das heißt: Unsere Zeitstruktur stürzt ein. Und das hat böse Folgen."

Auf diese hat 1999 der französische Soziologe Alain Ehrenberg mit seinem Buch "Das erschöpfte Selbst" hingewiesen. Darin konstatierte er, dass die depressiven Verstimmungen deutlich zugenommen hätten. Das sei eine Folge der Tendenz, die Zeit immer mehr zu verdichten – auch am Sonntag. Computer und Handy sind mittlerweile Multifunktionsgeräte, an denen uns gar nicht mehr langweilig werden kann. Wir haben zu viel zu erleben. Aber die geforderte permanente Aktivität überfordert viele Menschen.

Karlheinz Geissler: "Was haben wir davon, wenn sich die Depressionen verstärken durch den Wegfall des Sonntags? Das heißt, wir müssen mehr für Medikamente zahlen und wir können im Endeffekt weniger arbeiten. Das rechnet sich nicht. Ich kann Ihnen ein schönes Experiment aus dem Ersten Weltkrieg zeigen: Die Engländer haben den Sonntag abgeschafft; die englische Industrie mit Hilfe des Staates hat den Sonntag abgeschafft und hat die Sieben-Tage-Woche eingeführt, um die Kriegsproduktion zu intensivieren 1914. Das hat man nach wenigen Wochen eingestellt, weil die Produktion nicht gestiegen, sondern gefallen ist, und weil der Ausschuss größer geworden ist und weil die Unruhen in den Betrieben größer geworden sind. Das heißt: Es hat sich nicht gerechnet. Und es wird sich in Zukunft auch nicht rechnen."

Müssen wir also den Sonntag schützen, damit er uns vor uns selbst schützt? Es klingt paradox – und doch scheint etwas Wahres dran zu sein. Die Zeit der Besinnung, in der wir zu uns kommen, ist extrem wichtig. Das wusste auch Friedrich Nietzsche, als er 1878 in "Menschliches, Allzumenschliches" schrieb:

"Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken." (Band 1, S. 285)

Neben der Funktion als Pause und als Besinnungszeit weist der Zeitforscher Karlheinz Geissler auf eine dritte Eigenschaft des Sonntags hin: Nämlich die des "Tags der Vergemeinschaftung". Der Sonntag ist als arbeitsfreier Tag eine einfache Möglichkeit, ohne organisatorischen Kraftaufwand Gemeinschaftlichkeit zu organisieren. Familien, Interessengruppen, Fußballvereine – alle lassen sich am Sonntag am problemlosesten unter einen Hut bringen. Diese soziale Komponente des Sonntags wird häufig unterschätzt. Ob sich eine globalisierte, zunehmend individualisierte Gesellschaft noch einen Sonntag leisten kann, ist für Karlheinz Geissler keine Frage:

"Sie muss sich ihn leisten! Wenn sie ihn sich nicht mehr leistet, ändert sich die Gesellschaft schlagartig, und die Frage ist, ob es dann überhaupt noch eine Gesellschaft gibt! Oder nur noch eine Summe von Individuen, die miteinander irgendwie sich organisieren müssen und auskommen müssen. Oder ob es Gesellschaft gibt. Schauen Sie: Nicht umsonst haben wir (am) Sonntag gewählt – denn der Sonntag ist sozusagen der Tag der Gesellschaft, an diesem Tag wird unser Parlament neu zusammengesetzt. Der Sonntag ist doch ein ganz, ganz wichtiger sozialer Tag. Wir müssen nur mal überlegen, was wir da immer alles machen – das wird einfach vergessen, seltsamerweise. Aber wir tun ja auch viel am Sonntag gesellschaftlich – und deshalb gibt es Gesellschaft, gibt es eine Politik, gibt es eine Nation, weil es den Sonntag gibt. Und Familien erst recht."

Gehen wir also behutsam mit dem Sonntag um. Dass wir mit ihm auch uns selbst schützen – zu dieser profunden Erkenntnis braucht es nicht unbedingt der Worte der Bibel oder Nietzsches – da reicht auch ein alter Schlager von Hildegard Knef.

Musik: "Ich möchte am Montag mal Sonntag haben / Und nicht mehr in drohenden Rechnungen graben / Ich möchte nach keiner Beförd'rung mehr streben / und meinem Alltag den Abschiedkuss geben."