Am Morgen tat sich die Erde auf

Von Ingrid Kölle · 18.04.2006
Mehr als 3000 Menschen starben, als vor 100 Jahren ein Erdbeben die Stadt San Francisco zerstörte. Das Beben von 1906 lieferte den Forschern Daten, die sie noch heute nutzen. Und Seismologen warnen: Die Wahrscheinlichkeit eines starken Bebens in der Region sei nach wie vor hoch.
Um 5.12 Uhr an diesem Mittwochmorgen werden die Bewohner von San Francisco brutal aus dem Schlaf gerissen. Aufgeschreckt von einem ungeheuren Beben, suchen sie Schutz vor herunterdonnernden Schornsteinen, Balken und Mauern. Auch Karl Rodeck aus Schmalkalden eilt blutüberströmt auf die Straße.

"Bumms! Da lag ich schon wieder auf dem Rücken","

schreibt er in einem Brief an seine Mutter in Thüringen.

""Die Erde bewegte sich nämlich gerade so, als wenn sie aus Wasser wäre, richtige Wellen konnte man sehen, und die Häuser erst, die hättest Du mal sehen sollen. Richtig hin und her ging es mit den ganzen Straßen. Reihen fielen krachend zusammen und die meisten Einwohner konnte man zum Fenster hinausspringen sehen, in Hemd oder Unterzeug, manche sogar vollständig nackend. … Es war wohl ein Bild, wie es sein muss, wenn die Welt untergeht."

Aber es kommt noch schlimmer: Überall brechen Brände aus. Fast alle Hauptwasserleitungen sind gebrochen und der Feuerwehrchef liegt im Sterben. Drei Tage und Nächte legen Feuerstürme einen Straßenzug nach dem anderen in Schutt und Asche. Im Nachhinein spricht niemand mehr vom Erdbeben, sagt Carl Nolte, Autor von "San Francisco Century", einem Buch über den Wiederaufbau.

"Die alten Leute nannten es das Feuer. Sie dachten, das Erdbeben habe vergleichsweise geringen Schaden angerichtet. Manche Geschäftsleute dachten aber auch daran, dass sie bei einem Erdbeben kein Geld für den Wiederaufbau auftreiben würden. Feuer gab es dagegen auch in anderen Städten: in Baltimore, London, Chicago. Feuer sind nichts Ungewöhnliches. Ein Erdbeben dagegen konnte keiner so richtig verstehen."

Politiker und Geschäftsleute wollten Investoren nicht verschrecken, die Touristen mussten weiterhin angelockt und der Wiederaufbau vorangetrieben werden. Zahlen wurden nach unten manipuliert. Heute weiß man, dass anstatt 700 mehr als 3000 Menschen ums Leben kamen. Über die Hälfte der Bewohner von San Francisco war obdachlos geworden. Aber Hilfe kam aus dem ganzen Land. Im Golden Gate Park und anderen Grünanlagen wurden Zeltstädte errichtet, innerhalb von zwei Wochen gab es wieder Strom und die Lage normaliserte sich außerordentlich schnell. Geologen, Seismologen und sogar Astronomen schwärmten in alle Richtung aus und machten Messungen, sammelten Daten.

"Das Erdbeben von 1906 bildet die Grundlage der modernen Erdbebenforschung - sowohl hier in den USA wie auch in der ganzen Welt. Die Wissenschaftler erkannten zum ersten Mal, dass sich ein Erdbeben auf einem aktiven Graben ereignet hatte und dass dies Teil eines immer wiederkehrenden Prozesses war. Sie konnten auch zeigen, dass der Graben 1200 Kilometr lang war, fast so lang wie der gesamte Staat Kalifornien."

Marie Lou Zoback vom US-geologischen Dienst erläutert, dass Wissenschaftler noch heute Erkenntnisse aus den Daten von damals schöpfen. Für die Forschung war das Erdbeben von 1906 von entscheidender Bedeutung. San Francisco konnte jedoch trotz des raschen Wiederaufbaus seine einstige Vormachtstellung im Westen nicht wieder erlangen. Los Angeles wuchs stattdessen zur Riesenmetropole heran. Erhalten geblieben sind zwei Dutzend kleiner Holzhäuschen, die damals als Notunterkünfte auf die Schnelle zurechtgezimmert wurden und heute als historisch wertvoll gelten. Übriggeblieben ist außerdem ein möglicherweise trügerisches Bewusstsein unter den Einwohnern, dass San Francisco niemals unterzukriegen sei, sagt Carl Nolte:

"Wir Bewohner von San Francisco schreiben uns gerne ein besonderes Lebensgefühl zu, das es uns erlaubt, wie Phönix aus der Asche zu steigen. Den Phönix, den legendären Vogel, der aus der Asche wiedergeboren wird, nachdem alles zerstört wurde, findet man auf Fahne und Siegel der Stadt. Das ist vielleicht das Vermächtnis des Erdbebens. Der Glaube, dass man die Stadt zerstören kann, niederbrennen und sie wieder auferstehen wird, besser als vorher oder zumindest anders. Aber das ist problematisch. Es ist nur eine Vermutung, eine optimistische Vermutung. Wer weiß?"

Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass in San Francisco ein weiteres großes Erdbeben innerhalb der nächsten 30 Jahre passiert, sagen die Seismologen.