Am Anfang war ...

12.11.2007
Mehr als 17.000 Leser haben seit Mai die faszinierendsten ersten Sätze deutschsprachiger Romane und Erzählungen gesucht. Sieger des Wettbewerbs wurde der Roman "Der Butt" von Günter Grass. Die Kampagne wurde von der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen ins Leben gerufen, die nun zahlreiche Satz-Einsendungen in einem Buch zusammengefasst haben.
Der Satz, der die Wahl zum schönsten ersten Satz der deutschsprachigen Literatur gewann, ging ja in der vergangenen Woche auch durch fast alle Medien. Er eröffnet den Roman "Der Butt" von Günter Grass und ist kurz, knapp und höchst doppelbödig: "Ilsebill salzte nach." Und dann folgen rund 700 Seiten über das Kochen, die Liebe und das Leben.

Und wenn ich daraufhin eine Feuilletondebatte entfachen könnte, sollte, dürfte, wäre der Boden für viele Deutungen bereitet: Die Deutschen lieben das Leben, sie sind gar nicht so dröge, sie kochen gerne und mögen es auch kräftig. Und darum kann so ein Satz einfach mal mit Symboldonner auf dem Siegerpodest stehen.

Grass unser Nobelpreisträger und diesjähriger Jubilar - sein Achtzigster ist noch nicht lange her - wird nach all seinem Ungemach mit der gehäuteten Zwiebel zudem ein bisschen gestreichelt. Aber der Satz ist wirklich großartig - und wunderbar ist auch die Begründung, die ja schließlich zur Preisentscheidung der Jury führte. So wie jene von Lukas Mayrhofer aus Wien:

"Ilsebill - komischer Name. Ilsebill salzte, sie salzt! Es geht um das Essen! Fantastisch! Eine Geschichte ohne jedwede Nahrungsaufnahme ist mir suspekt. Wenn Ilsebill salzt, wissen wir zwar nicht, ob sie kocht oder schon beim Essen ist, ob sie das Essen selbst gekocht oder serviert bekommen hat, aber wir sind in einer kulinarischen Welt. Ilsebill salzte nach. Etwas stimmt nicht, hat zu wenig Würze, ist ohne Pep. Hat sie es gekocht und schmeckt sie es nur ab? Oder ist sie wirklich eine tyrannische Ilsebill, die gerade unbarmherzig die Hoffnungen ihres ehemännlichen Kochs zerstört, indem sie sein Süppchen, Hühnchen oder Fischchen - ist es gar ein Butt? - als nicht genügend abtut - mit einer einfachen, aber so erniedrigenden Geste: Ilsebill salzte nach. Wird es Krieg geben? Oder doch nur einen zufriedenen Rülpser am Ende?"

Wäre es ausschließlich um die Wahl der Wettbewerbsteilnehmer gegangen, dann hätte doch Franz Kafka das Rennen gemacht - und zwar mit seinem berühmten Einstieg in die Erzählung "Die Verwandlung":

"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt."

Das ist dann doch wieder das grüblerische, überkommene Bild der deutschen Literaturseele. Wenngleich dieser Satz sogar von einem Schüler zum Wettbewerb eingereicht wurde, der zunächst nur aus der Not, ein möglichst dünnes Buch für eine Schulaufgabe aussuchen zu wollen, auf diesen Satz gestoßen war und sich dann völlig fasziniert in den Text gestürzt hat.

Das Buch, das im Ergebnis des Wettbewerbes entstanden ist, ist ein ganz und gar vergnügliches Buch, dazu sehr schön anzuschauen, da es durch eine Reihe von Fotos begleitet wird. Fotos, die ein wenig wie erste Sätze wirken: Sie öffnen die Tür zu einer Situation, die aber nicht sofort ausgedeutet wird, sondern viele Geschichten zulässt: fröhliche, traurige, verworrene, kauzige oder bitterböse.

Erste Sätze legen eine Spur, schlagen Funken, geben Rauchzeichen oder entzünden ein Feuer - für die Leser sind es meist Leuchttürme, die sie lieben, von den Verlagen werden sie oft gefürchtet und von den Autoren verflucht. Das weiße Papier - selbst wenn es virtuelles ist - glotzt sie an. Der Autor schwitzt, grübelt oder jongliert mit diversen Bällen. Jeder geht anders damit um, aber mühsam ist es fast immer. Thomas Brussig nennt den ersten Satz einen Brühwürfel, in dem alles drin sein sollte, was das literarische Gericht am Ende ausmacht. Brussig erzählt neben Elke Heidenreich, Lars Reichow und Anton Kruse in kleinen essayistischen Texten ein wenig mehr über Lust und Qual bei der Suche nach dem ersten Satz. Ansonsten kann man in dem Buch ganz einfach hin und her blättern, sich über erste Sätze freuen oder wundern und wird ganz sicher besonderes Vergnügen an den jeweiligen Begründungen für die Auswahl haben.

Eines wird dabei sofort deutlich: Starke Gefühle als Auftakt werden besonders geliebt und Sätze, die die Tür zum Text schwungvoll öffnen.
"Entweder mache ich mir Sorgen oder etwas zu essen", grinst Ildiko Kürthys erster Satz und schon hat sie damit den Bremer Schüler Philip Grothe für sich und ihre Geschichte gewonnen. Wer mit solcher Lebensalternative in den Tag geht, hat einen gesunden Menschenverstand und Witz. Oder wenn Max Frisch seinen Roman "Stiller" mit dem regelrecht unverfrorenen Satz beginnt: "Ich bin nicht Stiller", da wird einem sofort klar, hier ist gar nichts klar, hier muss man jemandem auf die Schliche kommen. Oder man schafft es wie Sten Nadolny in seinem berühmten Buch "Die Entdeckung der Langsamkeit" den Sound eines Buches wie eine Melodie sofort anklingen zu lassen:

"John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte."

Man sieht den Jungen direkt vor sich, vermutlich ein bisschen dicklich, linkisch und schüchtern - was soll aus dem bloß mal werden? Ein Sorgenkind oder doch nicht? Und es gibt diese ersten Sätze, die gar nicht enden wollen. Sie sind wie bei Friedrich Dürrenmatt ganze 15 Zeilen lang und wirken auf den Leser "wie die chinesische Mauer" beziehungsweise wie bei Theodor Storms "Schimmelreiter" fast wie ein Vorwort oder erstaunen wiederum beim Meister der deutschen Satzarabesken - bei Thomas Mann - mit dem kurzen, beinah panischen Fragesatz: "Was ist das?"

So knapp eröffnete Thomas Mann vor über 100 Jahren seine großangelegte Familiengeschichte. Dass er auch anders kann mit den ersten Sätzen, belegt sein Alterswerk "Felix Krull" - da nimmt er so richtig Anlauf, kostet den ersten Satz aus.

Das eine sind also die ersten Sätze, das andere die schönen Begründungen der Leserinnen und Leser, was ihnen an diesen Sätzen so gefällt. Sie eröffnen einem damit oft ganz neue Blicke auf die Literatur. Ich jedenfalls habe selber einen ganzen Abend lang vor meinem Bücherregal gesessen und nach ersten Sätzen gesucht, bin dabei an Bekanntem, Geliebten hängen geblieben und auf Neues gestoßen, das sich ganz gewiss über den ersten Satz hinaus lohnt zu lesen.

Rezensiert von Astrid Kuhlmey

Initiative Deutsche Sprache/Stiftung Lesen: Der schönste erste Satz
Hueber Verlag, 144 Seiten, 19,95 Euro