Alzheimer lässt sich hinauszögern

Martin Haupt im Gespräch mit Gabi Wuttke · 14.05.2011
Wenn Alzheimer-Kranke gut mit Medikamenten versorgt werden, können sie länger im gewohnten Umfeld leben, betont der Gerontopsychiater Martin Haupt. Das spare auch Kosten, weil die Patienten dann nicht so schnell auf die Betreuung in einem Pflegeheim angewiesen wären.
Gabi Wuttke: Es ist 110 Jahre her, dass dem Psychiater Alois Alzheimer eine eigenartige Erkrankung auffiel: der vorzeitige geistige Verfall. Heute gibt es in Deutschland schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen, die an Demenz erkrankt sind, Tendenz steigend. Sowohl mit den Problemen, als auch den Behandlungsperspektiven beschäftigt sich die Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und Gerontopsychotherapie, ihr Vizepräsident Dr. Martin Haupt, ist am Telefon von Deutschlandradio Kultur. Guten Morgen, Herr Haupt!

Martin Haupt: Guten Morgen, Frau Wuttke!

Wuttke: Alzheimer von natürlichen, altersbedingten Funktionsverlusten zu unterscheiden, kann auch für Fachleute schwer sein. Ist das ein Faktor, der die Angst vor Demenz erklärt?

Haupt: Es ist sicherlich zutreffend, dass es schon einer spezialisierten Erfahrung bedarf, sehr früh im Zeitraum der Symptomentwicklung die Diagnose richtig zu stellen. Ich glaube, Ängste, wenn man auf sie trifft, rühren vor allen Dingen daher, dass natürlich die Menschen im Alter besonders Angst haben vor Hilfebedarf, Abhängigkeit von anderen und auch einer Entwicklung mit Gedächtnisverlust und Autonomieverlust.

Wuttke: Seit dem Freitod von Gunter Sachs wird ja viel über die seelische Gesundheit von Demenzkranken diskutiert, womöglich auch auf dem großen Kongress, den Sie gerade abgehalten haben. Welches Signal hat dieser Selbstmord aus Ihrer Sicht für den Umgang mit der Krankheit gesetzt?

Haupt: Es ist in jedem Fall richtig, dass auch hier heute sehr viel diskutiert wurde anlässlich dieses Todes und auch der Art und Weise, wie Gunter Sachs aus dem Leben schied. Der Kongress hat hierüber sehr viel diskutiert in den Pausen natürlich, auf den Symposien.

Ich glaube, wir sind in jedem Fall aufgerufen, den Menschen ganz deutlich zu machen, dass man diese Diagnose sehr früh stellen kann, dass man sie vor allen Dingen stellen muss, um nicht in der Vagheit zu verbleiben, es könnte sein, dass ich in diese Krankheit hineingleite, so wie es bei Gunter Sachs war, der nicht wirklich die Diagnose aufgesucht hat, und dass man dann natürlich auch sehr viele Möglichkeiten hat, um ein Leben zu garantieren oder zu ermöglichen, welches auch würdevolles Leben, eine gewisse Lebensqualität im Alltag trotz der Erkrankung ermöglicht.

Wuttke: Und wie kann die Gerontopsychiatrie beziehungsweise –psychotherapie da helfen?

Haupt: Wir haben heute Möglichkeiten, die Erkrankung zum einen mit medikamentösen Maßnahmen und auch mit nicht medikamentösen Maßnahmen hinauszuzögern. Wir können, wenn die Personen ansprechen auf die Behandlung, unter Umständen sogar einige Jahre des stabilen weiteren Alltages und der Selbständigkeit ermöglichen. Und wir können natürlich auch in schwierigeren Phasen begleiten und, falls es zu depressiven, ängstlichen, unruhigen Zuständen kommt, auch hier Hilfe geben durch Begleitung, durch Tagesstrukturierung, aber vor allen Dingen eben auch wieder hier durch vorsichtige Gabe von Medikamenten.

Wuttke: Inwiefern haben Sie denn in den letzten Jahren und Jahrzehnten Erfahrung gemacht, die in Modelle mündeten, von denen Sie sich wünschen würden, dass sie sich weit verbreiten können in unserm Land, um den Menschen zu helfen?

Haupt: Ja, im Grunde basieren alle Modelle, die erfolgreich waren und viel Hilfe geben konnten für die Kranken, darauf, dass sich unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Expertisen für die Kranken zusammentun. Entweder, wie wir jetzt auf unserem Kongress preiswürdig sahen, eine Aktion oder ein Projekt, bei dem älteren Menschen ein tägliches Zusammenleben mit jungen Menschen ermöglicht wurde. Diese jungen Menschen waren psychisch und zum Teil auch körperlich behindert. Die älteren Menschen hatten hierdurch nicht nur eine Gemeinschaft, die sich plötzlich wieder ihnen bot über das Zusammensein mit jüngeren Menschen, sondern sie hatten auch noch in ihrer Demenz die Möglichkeit zu helfen und zu unterstützen.

Also nicht nur, Hilfe entgegenzunehmen, sondern auch wieder diesen jüngeren Menschen zu helfen, was also in sehr vielen Fällen, die dann beobachtet wurden, in einer ganz tiefgehenden Zufriedenheit, auch in einem Frohsinn regelrecht mündete, sodass das eine wirklich sehr schöne Projektsache war.

Andere Dinge wie zum Beispiel die Ermöglichung von ehrenamtlichen Helfern in Zusammenarbeit mit ambulanten Diensten zur Begleitung von demenzkranken älteren Menschen durch die Woche hindurch hat vielen geholfen, wiederum zu einer Bewegung, zu einem Leben mit der Außenwelt, gegen einen Rückzug in die Isolation, - trotz der Erkrankung auch wieder gestaltend den Alltag zu verbringen.

Wuttke: Also das heißt, es fehlt nicht an Möglichkeiten, Menschen mit Demenz ihre Freude, Zufriedenheit und auch vor allen Dingen ihre Würde zu erhalten?

Haupt: Ich glaube, dem ist in jedem Fall so. Ich möchte hierzu nur noch eines sagen, was ich ganz wichtig finde: Bei dieser Erkrankung droht natürlich, durch die Erkrankung derjenige seine Würde zu verlieren, weil er sie sich nicht mehr selber geben kann. Die Erkrankung nimmt ihm zu viele Fähigkeiten und Fertigkeiten. Aber in der Weise, in der wir mit den Kranken umgehen, können wir ihnen im Grunde diese Würde wieder zurückgeben.

Wuttke: Die Politik redet ja viel über die Alterung unserer Gesellschaft. Wie tief, Herr Haupt, ist denn der Graben zwischen Theorie und Praxis – um mal zwei Hausnummern zu nennen: Pflegeversicherung und Krankenkassen.

Haupt: Ja, Sie greifen ein wichtiges Thema auf, das eine langjährige Forderung von unserer wissenschaftlichen Fachgesellschaft ist. Wenn wir es bei der gegenwärtigen Zweiteilung beließen – das bedeutet, die Krankenkassen kommen für die Verordnungen des Arztes auf, sprich die medikamentöse Versorgung in der überwiegenden Zahl der Fälle. Und die Pflegekasse kommt für die Heimversorgung und sonstige pflegerische Dinge auf. Dann ist das eine Zweiteilung, die sich im Grunde gegenseitig nicht günstig beeinflusst. Die Krankenkassen sind natürlich gehalten und versuchen auch, Kosten im medikamentösen Bereich zu sparen, die Pflegekassen wiederum müssen dann dadurch, dass die Medikamente nicht ausreichend gegeben werden können, viel zu früh schon auf den Plan treten und dann mit einer sehr viel kostenaufwendigeren Versorgung - üblicherweise dann auch eine Heimversorgung - im Grunde die Aufwendungen für die Pflege bezahlen. Also wenn hier ein Zusammengehen möglich wäre, dann könnten die Effekte der Medikamente, die nämlich ein Hinauszögern des Zustandes, in ein Heim gehen zu müssen, ermöglichen, viel besser greifen, und über die Zeit der Krankheit könnte es für den Kranken und natürlich für die Gesellschaft kostengünstiger werden.

Wuttke: Über Perspektiven und Probleme bei der Behandlung von Demenzkranken der Psychiater Martin Haupt, Vizepräsident der DGGPP. Herr Haupt, ich danke Ihnen sehr, ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

Haupt: Für Sie auch, Frau Wuttke, danke!