Altersvorsorge

Die Lüge eines lebenslangen Wohlstandes

04:17 Minuten
Ein Senioren-Ehepaar macht Übungen auf einem sogenannten "Beintrainer" auf dem Seniorenspielplatz in Hannover.
Wohlstand im Alter! - "Meine Rendite heißt Honorar", fasst Pieke Biermann ihre persönliche Altersvorsorge zusammen. © laif / Christian Burkert
Ein Kommentar von Pieke Biermann · 18.09.2020
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Unermüdlich ruft die Finanzindustrie ihre Kunden dazu auf, sich den "gewohnten Lebensstandard im Alter" zu sichern. Dieser Standard basiert aber auf Wachstum und das ist in Zeiten des Klimawandels mehr als deplatziert, meint die Autorin Pieke Biermann.
Dies ist ein Aufruf zur Cancel Culture an die Systemelefanten in der Finanz-, Versicherungs-, Renten-, Werbe- sowie Medienwirtschaft: Schluss mit dem Geschwätz vom gewohnten Lebensstandard! Klar, ich weiß, wir leben in Zeiten semantischer Unschärfe, in denen ein vernünftiger Virenfänger vorm Mund als Bevormundung begeifert und die Allzeitbereitschaft zum Beleidigtsein als Quell des Glücks durch Aufmerksamkeit zelebriert wird.

Wir leben auch, zumindest in Berlin, in Zeiten der ubiquitären Baustelle: In gefühlt jeder zweiten Straße versperren einem rot-weiße Plastikbarrikaden den Weg. Nichts gegen die Rot-weiß-Kombi – auf belarussische Demos passt sie prima, zu Pommes frites sowieso. Aber die hier gemeinte ist ein Dauerangriff auf die Lebensqualität, schon weil eine einmal offene Baustelle gefühlt nie wieder zugeht. Das muss gar kein Flughafen werden.

Am Boden sind die Malocher

Man fragt sich: Werden da eventuell die Zeitfenster extra so weit geöffnet, dass am Ende alle Arbeitenden auf den aufstockberechtigten Minilohn kommen? Also von uns allen mitbezahlt werden müssen? Man rollt ratlos die Augen gen Himmel, und was sieht man auf der Plane, die die Luxusimmobilie in spe da verhängt?
Werbung. Für überteuerte Turnschuhe oder Fernsehshows mit überkandidelten Bulimieopfern oder überdrehte Benzingeschosse, die kein Mensch braucht. Oder – für den mitfinanzierenden Immobilienfonds, der sein Geld wieder reinholen möchte und lockt: "Sichern Sie Ihren gewohnten Lebensstandard!"
Soll heißen: Wer in eine der entstehenden Eigentumswohnungen investiere, lebe später sorglos von der Rendite. Mit der Sorte Versprechen hat die Riesterrente auch mal angefangen, und wir kennen das Ergebnis. Außerdem: Es gibt derzeit in Berlin schon circa 7500 Wohnungen zu kaufen, weshalb einem auch die Banken gern Immobilienfonds empfehlen, falls man etwas anzulegen hat.

Der Wohlstandsgedanke ist ein Kind der Wachstumsideologie

Und deshalb bin ich jetzt einfach auch mal beleidigt. Das ist doch echt der Hohn! "Ihr gewohnter Lebensstandard!" In Europa wird damit immer Wohlstand assoziiert, und der braucht angeblich immer Wachstum. Hatte nicht schon vor fast 50 Jahren der Club of Rome die Grenzen des Wachstums aufgezeigt?
Lehren uns nicht inzwischen sehr konkrete Klimaveränderungen, wie fatal der ganze Wachstumsirrsinn ist? Und ist nicht seit Hartz IV und Unterhaltsreform die beschworene "Sicherung des Lebensstandards", einst Kernkompetenz des Sozialstaats, praktisch durchgebrannt?

Meine Rendite heißt Honorar

Mein gewohnter Lebensstandard ist seit eh und je prekär und liegt – wie im Lexikon – irgendwo zwischen L wie Lebensrisiko und L wie Lebensstil. Ich kenne Rente auch nicht als Lebensperspektive; ich war, als halbe "Kriegswaise" von meinem dritten bis 27. Lebensjahr Rentenempfängerin. Ich zahle seit 1979 Steuern, Sozialabgaben sowie sämtliche Zuzahlungskapriolen der Krankenkasse – für Rezepte, Physiotherapie, Arztpraxen. Meine Rente liegt trotzdem 100 Euro unter dem Satz, mit dem man als "armutsgefährdet" gilt.
Meine Rendite heißt Honorar. Nebenbei: Semantisch scharf hat das mit "Ehre" zu tun und ist entsprechend wackeliger Boden. Sorglos leben, tut man davon nicht. Ziemlich frei dagegen schon: von festem Einkommen, klar, aber eben auch von allzu viel Bevormundung und Konsumwahn. Man überlegt quasi standardmäßig, was man zu seinem guten Leben wirklich braucht. Zeit zum Beispiel. Krempel aus den Porzellanläden der angesprochenen Systemelefanten mit Sicherheit nicht, schon aus Gewohnheit.

Pieke Biermann, Jahrgang 1950, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin in Berlin. Für ihre Übersetzung von Fran Ross‘ Roman "Oreo" wurde sie mit dem diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.


Pieke Biermann
© laif / Isolde Ohlbaum
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