Alte und neue Einsichten

Rezensiert von Florian Felix Weyh · 06.10.2006
Bernhard Bueb, langjähriger Leiter der Internatsschule Salem, wirft nach seiner Pensionierung alle Scheuklappen über Bord und öffnet den pädagogischen Diskurs für neue, alte Einsichten. Einsichten freilich, die über Jahrzehnte hinweg kaum einer hören wollte, jedenfalls nicht in den pädagogischen Seminaren der alten Bundesrepublik.
"Mut zur Erziehung heißt vor allem Mut zur Disziplin. Disziplin ist das ungeliebte Kind der Pädagogik, sie ist aber das Fundament aller Erziehung."

… spricht einer, der es wagen kann, so zu sprechen. Bernhard Bueb, langjähriger Leiter der Internatsschule Salem, wirft nach seiner Pensionierung alle Scheuklappen über Bord und öffnet den pädagogischen Diskurs für neue, alte Einsichten. Einsichten freilich, die über Jahrzehnte hinweg kaum einer hören wollte, jedenfalls nicht in den pädagogischen Seminaren der alten Bundesrepublik:

"Disziplin verkörpert alles, was Menschen verabscheuen: Zwang, Unterordnung, verordneten Verzieht, Triebunterdrückung, Einschränkung des eigenen Willens. Disziplin setzt anstelle des Lustprinzips das Leistungsprinzip: Jede Einschränkung ist erlaubt oder sogar geboten, die dem Erreichen eines gesetzten Zieles dient. Disziplin beginnt immer fremdbestimmt und sollte selbstbestimmt enden, aus Disziplin soll immer Selbstdisziplin werden."

Der mild-liberal sozialisierte Bundesbürger westlicher Provenienz liest aus diesen Worten die Forderung nach Zucht und Ordnung heraus und schüttelt angewidert den Kopf: Nein dorthin, zu den Kadettenanstalten des preußischen Militarismus, darf kein Weg zurückführen! Das wäre schwarze Pädagogik pur, die Rückverwandlung der individuellen Förderschule in eine charakterbrechende Institution. Doch Bueb fügt an dieser Stelle, ganz zu Beginn seines ihm mit Sicherheit Ärger einhandelnden Pamphlets, einen entscheidenden Satz an:

"Disziplin in der Erziehung legitimiert sich nur durch Liebe zu Kindern und Jugendlichen."

Liebe indes ist ein interpretationsoffener Begriff, an dessen Zweischneidigkeit sich ganze Generationen wohlmeinender Lehrer verletzten. Bueb präzisiert deshalb an anderer Stelle:

"Es ist kein partnerschaftliches Verhältnis. Versäumt der Lehrer es, sich klar zu positionieren und seine Macht zu etablieren, kann im schlimmsten Fall seine Autorität für das ganze Schuljahr infrage stehen. Schüler nutzen unbarmherzig Schwächen aus, die sie bei Lehrern entdecken. Noch als Väter und Großväter berichten sie stolz, wie sie Lehrer ‚fertiggemacht’ hätten. Es wird einem Lehrer nicht verziehen, wenn er den Machtkampf verliert."

Pädagogik als Kampf, zumindest als Ringen um Macht zwischen zwei nach Dominanz strebenden Parteien, passt nicht so recht zu einfühlsamen modernen Entwicklungstheorien, wohl aber zur tristen Wirklichkeit an vielen Schulen. Und Salem, jenes süddeutsche Edelinternat, ist keineswegs ein sozialer Brennpunkt, an dem dieser Kampf mit der Härte eines Partisanenkriegs geführt wird, was an Hauptschulen mittlerweile häufig vorkommt. Wenn schon das humanistische Idyll am Bodensee zu solchen Lebensbilanzen verleitet - wie erst müsste sich ein Schuldirektor aus Berlin-Neukölln äußern? Allerdings wäre er vielleicht etwas unsouveräner im Umgang mit dem immer noch vorherrschenden GEW-Zeitgeist und seinem romantischen Menschenbild als der Elitepädagoge Bueb, der sich ihm tapfer zu entziehen vermag. Metaphorisch, nicht ideologisch, beschreibt er die beiden Erziehungs-Paradigma vor und nach dem Epochenbruch von 1945. Bis zum Ende des Nazireichs herrschte der "Töpfer" vor, jener Erwachsene, der Kinder widerspruchslos nach seinem Gusto formen will; spätestens seit den 60er-Jahren trägt ein anderer Typus Vorbildcharakter, der "Gärtner":

"Der Töpfer und der Gärtner repräsentieren zwei legitime Stile der Erziehung, die in Reinform selten vorkommen, meistens treffen wir eine Mischung mit einer Neigung zum einen oder anderen Pol an. Beide Stile bergen Gefahren in sich, der Stil des Töpfers kann in autoritäre Erziehung ausarten und der Stil des Gärtners in Nicht-Erziehung. Wir wollten nach den Erfahrungen einer autoritären Erziehungstradition, die in einer Diktatur endete, eine Nation von Gärtnern werden, sind aber zu einer Nation von Nicht-Erziehern geworden, denn es herrscht das Missverständnis, dass der Gärtner auf Führung verzichten dürfe. Auch er greift ein, beschneidet die Pflanzen, bindet sie an Stangen und bewahrt sie vor Befall und Fehlentwicklung, wenn er ein guter Gärtner sein will."

Doch auch in draußen in der Natur hat der Beruf des Gärtners einen Bedeutungswandel erfahren, denn mit der Ökobewegung wurde das Naturbelassene zum eigentlichen Ideal - ob in Nachfolge oder parallel zur antiautoritären Erziehung, lässt sich kaum klären. Zu dieser antiautoritären Erziehung könnte man aus der Sicht ihrer Gegner Bände schreiben, doch Bueb genügt ein vernichtender Satz, obwohl er selbst zugibt, am Anfang seiner Laufbahn, ihren Sirenengesängen wenigstens teilweise erlegen zu sein:

"Der Begriff der antiautoritären Erziehung war schon deswegen absurd, weil Erziehung ohne Autorität keine Erziehung ist."

In welche Kategorie von Büchern gehört das ‚Lob der Disziplin’? Schon auf dem Cover klappt es sein schützendes Visier hoch: Eine Streitschrift will es sein, kein informatives Sachbuch, kein abgewogenes Für und Wider. Im Gegenteil, es ist eine engagierte Wortmeldung bei nicht geringer Gefahr der Verfemung seines Autors. Es wird viele Leute geben, denen die Positionen Buebs missfallen, ja die sie für gefährlich halten, ganz nach dem alten Denkmuster Wehret den Anfängen! Am besten, besagt es, unterbinde man alle Autoritätsbildung, da sie jederzeit missbräuchlich eingesetzt werden kann. In der schwächeren Form dieses moralischen Totschlagarguments hat Autorität immer noch einen seelenschädigenden Charakter. Bernhard Bueb, dem die feindliche Übernahme der Pädagogik durch die Psychologie gegen den Strich geht, hält dem entgegen:

"Es gehört zu den folgenreichsten Irrtümern der Nachkriegszeit, dass Autorität Angst erzeuge. Rechtmäßig genutzte Macht, also Autorität, erzeugt keine Angst, sondern schafft Vertrauen. Der Mangel an Autorität führt zu Angst, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit."

Eine Streitschrift will nicht moderieren, sondern statuieren, und das ist, als Meinungsäußerung deutlich gekennzeichnet, ihr gutes Recht. Allerdings schlägt Bernhard Bueb dabei überraschen¬de Volten. Anhängern sehr konservativer Familienpolitik wird es kaum gefallen, mit welcher Vehemenz er für die Gemeinschaftserziehung eintritt, also die Familie gerade nicht für den idealen Ort aller Geistes- und Herzensbildung hält. Absatzweise liest sich das fast wie eine Reminiszenz ans DDR-Kinderbetreuungssystem:

"Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder aller Schichten den ganzen Tag in einer von Erwachsenen geführten Gemeinschaft leben, arbeiten und spielen können. Bereits im ersten Lebensjahr sollten Mütter ihre Babys Kinderkrippen anvertrauen dürfen, es sollte flächendeckend Kindertagestätten geben und natürlich Kindergärten."

Auch hier ist sich der Autor seiner Abseitsposition bewusst. Denn wie die Disziplin wurde auch die Kollektiverziehung von beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Misskredit gebracht.

"Gemeinschaftserziehung ist in Deutschland nicht populär. Sie bildet jedoch den einzigen Ausweg aus dem Erziehungsnotstand, der aus dem Zerfall der Familien resultiert. Es hat wenig Sinn, den Wert der Familie und ihren Vorrang gegenüber jeder Erziehung in der Gemeinschaft zu beschwören. Im Gegensatz zur Gemeinschaftserziehung lassen sich Familien nicht planen, Trennungen nicht verbieten, erziehungsunfähige Eltern nicht oder kaum erziehen."

Allein aus dieser Nebenbemerkung, dass sich Familienkonstellationen auflösen können, während das schulische Umfeld biografische Sicherheit gewährt, spricht mehr Lebensweisheit als aus dickleibigen sozialwissenschaftlichen Wälzern. Bueb schreibt als Praktiker und fichtt für pädagogische Intuition an Stelle starrer und theoriegeleiteter Regeln. Und wenn einem der eine oder andere Punkt bei der Lektüre sauer aufstößt, ist das auch eine Qualität des Buches. Die eigene Meinung ist nämlich nichts wert, bevor sie sich nicht an der gegenteiligen Ansicht gerieben hat. Lob des Autors, Lob seines Mutes - ein kleines Buch, ein großes Kaliber.



Bernhard Bueb:
Lob der Disziplin

Eine Streitschrift
List Verlag, Berlin 2006.