"Alte Schule"

Vorgestellt von Maike Albath · 26.05.2005
In seinem autobiographisch gefärbten Roman "Alte Schule" erzählt Tobias Wolff von einem Schüler an einem Elite-Internat an der amerikanischen Ostküste. Er verschweigt seine einfache Herkunft und gibt sich literarischen Ambitionen hin. Erst als er wegen einer Fälschung der Schule verwiesen wird, wird er wirklich zum Schriftsteller. Wolff legt hier eine Variante des modernen Bildungsromans vor.
Eine alteingesessene Privatschule irgendwo an der amerikanischen Ostküste: weitläufige Parkanlagen, Sportplätze, eine hervorragende Bibliothek. Der Besuch des morgendlichen Gottesdienstes ist Pflicht, ein strenger Ehrenkodex und uneingeschränkte Loyalität sind selbstverständlich. Schließlich handelt es sich um eine ehrwürdige Institution, aus der die renommierten Universitäten ihren Nachwuchs rekrutieren.

Unerschütterlich geht alles seinen elitären Gang, den prosaischen Zeitläuften weit enthoben. So jedenfalls sieht es der Ich-Erzähler und Held des autobiographischen Romans Alte Schule von Tobias Wolff. Wir schreiben das Jahr 1960, und unter den Schülern verursacht ein Besuch Robert Frosts weit größere Aufregung als die Präsidentschaftswahlen, aus denen Kennedy als Sieger hervorging. Frost, Hemingway, Scott Fitzgerald, das sind die wahren Helden der literatursüchtigen Schüler.

In einem beiläufigen Plauderton breitet der Ich-Erzähler den Internatsalltag vor uns aus: Ein Bilderbogen wie aus einer klassischen Campus-novel ersteht vor unseren Augen, mit kauzigen, liebenswerten Lehrern, einem gestrengen, aber gerechten Direktor und intelligenten, widerspenstigen Schülern.

Aber es gibt Widerhaken, denn das Ganze ist grundiert durch ein schmerzhaftes Gefühl der Unzugehörigkeit. Der Erzähler, daraus macht er keinen Hehl, fühlt sich trotz der allgemeinen Anerkennung und seiner literarischen Ambitionen unter den Klassenkameraden als Außenseiter. Seine Ironie, das fortwährend zur Schau getragene Understatement und die betont nachlässige Kleidung sind die perfekte Imitation der ortsüblichen Gepflogenheiten.

Anders als die Söhne aus wohlhabenden Familien, die den Snobismus mit der Muttermilch aufsaugen und qua Geburt um ihre Bedeutung für die Gesellschaft wissen, muss sich Tobias seinen Platz hart erkämpfen. Statt stolz auf sein Stipendium zu sein, vertuscht er seine einfache Herkunft ebenso wie die Tatsache, dass sein Vater Jude ist. Das Gefühl einer inneren Spaltung beginnt ihn zu bestimmen.

Zu den Traditionen der Schule zählen regelmäßige Besuche von Schriftstellern, die Lesungen abhalten und sich den Fragen der Schüler stellen. Die Absolventen der Abschlussklasse dürfen Erzählungen einreichen: der Verfasser der besten Geschichte wird mit einer Privataudienz bei dem illustren Gast belohnt, was einen regelrechten Schreibwettkampf unter den Schülern entfacht. Als sich Hemingway ankündigt, ist es um unseren Helden geschehen: Er muss alle Mitstreiter überflügeln und Hemingway treffen, anders kann er sich sein Leben nicht mehr vorstellen.

Der immense Druck führt zu einer Schreibblockade, die sich erst wieder löst, als er durch Zufall in einer alten Schülerzeitung auf die Erzählung eines Mädchens über einen Tanztee stößt. Sie handelt von Verstellung und Manipulation und gipfelt in eine Episode, bei der das Mädchen seinen jüdischen Nachnamen verschweigt. Der ehrgeizige Aspirant fühlt sich im Innersten getroffen, schreibt die Geschichte kurzerhand ab, reicht sie ein und geht – Ironie des Schicksals – als Sieger aus dem Wettbewerb hervor.

Natürlich fliegt die Sache auf, und natürlich muss er die Schule sofort verlassen. Ohne Abschluss und ohne Universitätsstipendium, das er bereits in der Tasche hatte. Aber die Demütigung ist dennoch der Auslöser für seine Laufbahn als Schriftsteller: Zum ersten Mal begreift der Erzähler, dass Beschädigungen Teil des Lebens sind und ebenso wertvoll sein können, wie Glück und Erfolg. Er kehrt nicht nach Hause zurück, sondern jobbt als Kellner in New York und geht nach Vietnam.

Alte Schule ist eine Variante des Bildungsromans: Literatur und fiktionale Welten spielen dabei eine ebenso große Rolle wie Freundschaften und emotionale Krisen.

Tobias Wolff, 1945 geboren, Creative-Writing-Dozent in Stanford, wurde mit lakonisch-knappen Kurzgeschichten bekannt und gilt als ein Vertreter des dirty realism ("Jäger im Schnee", 1988, "Der Kasernendieb", 1992, "Die entscheidende Nacht", 1998). Wolff kam durch die Fälschung eines Gutachtens an eine Eliteschule, die er ohne Abschluss verließ, um sich freiwillig zur Armee zu melden. Er schlug sich als Erdbeerpflücker und Möbelpacker durch und studierte Literatur in Oxford. Berühmt machten ihn seine autobiographischen Romane In der Armee des Pharao (1995) und This Boy’s Life (1990) über seine Kriegserfahrungen und seine Kindheit. This Boy’s Life ("Das Herz ist ein dunkler Wald") wurde 1993 mit Leonardo di Caprio und Robert de Niro verfilmt.

Tobias Wolff: Alte Schule
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert.
Berlin Verlag 2005. 251 Seiten, 19, 90 €.