Alte Kirschsorten im Oberen Mittelrheintal

"Bopparder Krächer" sind Weltkulturerbe

10:52 Minuten
Reife Kirschen in einer Kirsch-Plantage.
Ein Sortengarten erhält die Artenvielfalt. © picture alliance / dpa/ Nestor Bachmann
Von Anke Petermann · 13.07.2021
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Nicht auf die Farbe oder Größe kommt es an: Der "Bopparder Krächer" knackt beim Draufbeißen. Er wächst im Sortengarten in Filsen, dessen alte Sorten für die industrielle Produktion lange Zeit irrelevant waren. Heute gelten sie als Spezialität.
"Wir sind im Urlaub und wollten den Kirschenpfad gehen – keine Ahnung, was jetzt noch passiert", sagt Erika Blasius, die mit ihrem Mann aus der Gegend von Chemnitz nach Rheinland-Pfalz gereist ist. Der Kirschenpfad von Filsen liegt auf der Höhe des Halbinsel-ähnlichen Bogens, den die größte Rheinschleife hier südlich von Koblenz zieht. Das Ehepaar hat Glück, denn es ist mitten in die Kirschwochen geraten, also in die achtwöchige Reifezeit.
Suchend schaut Erika Blasius in die jungen Bäume am Anfang des Kirschenpfads. In einem hängen kleine gelb-rote Früchte. Ob die wohl reif sind? "Ich hab‘ ja in meinem Garten auch einen Kirschbaum, aber die schmecken erst, wenn die richtig dunkel sind."

Dunkle Farbe ist kein Maßstab für Reife

Doch im Sortengarten hoch über der Rheinschleife des 600-Einwohner-Dorfs Filsen ist das kein Maßstab. Genauso wenig wie die Größe, so Frank Böwingloh. Der Kirsch-Experte vom Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum Westerwald-Osteifel will heute nicht ernten, sondern nur ein Dutzend Exemplare einiger Sorte pflücken.
Später werden die Kirschsteine im Labor unterm Mikroskop auf ihre Identität hin geprüft – für die Deutsche Genbank Obst in Dresden. Von den 82 Sorten entsprechen nur wenige – wie die "Kesterter Schwarze" aus dem Nachbarort Kestert – dem Farbklischee "dunkel gleich reif", weiß Böwingloh.
"Das ist aber typisch hier für den Mittelrhein gewesen, die Frühkirschen der 'Bunten Kirsche' – das war so der Exportschlager für viele Jahrzehnte", erzählt er. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Weinbau wegen der Reblaus schwächelte, bis in die 1920er-Jahre. Von da an unterlag die Mittelrhein-Kirsche zunehmend der Konkurrenz größerer Anbaugebiete mit dickeren Früchten in rotschwarzen Standardfarben.
In den 1960-ern verlangte der Handel große Mengen in Einheitsqualität. Da verschwand am Mittelrhein eine Kirsch-Anbaufläche nach der anderen. Doch die alten Sorten blieben – in den Gärten beiderseits des Rheins und den kleinen Nebenerwerbsplantagen. Heute gehört all das zum Welterbe. Denn die UNESCO stellte 2002 die gesamte Kulturlandschaft zwischen Bingen, Rüdesheim und Koblenz unter Schutz. Ein "Landschaftsmosaik", sagt Welterbe-Managerin Nadya König-Lehrmann.

Obstbau im Mittelrheintal als UNESCO-Weltkulturerbe

"Man kann sehr gut die Mischung aus den Gesteinsformationen, dem Durchbruchstal des Rheins, aber auch der landwirtschaftlichen Nutzung des Menschen ablesen", erklärt König-Lehrmann weiter: "Bis hin zu den kleinen Ortschaften, Siedlungen und Burgen, die zum Zollertrag beigetragen haben. Dieses Landschaftsmosaik der verschiedenen Nutzungsformen ist das, was von der UNESCO eingetragen und anerkannt wurde – da gehört neben dem Weinbau, den wahrscheinlich die meisten Menschen mit dem Mittelrheintal verbinden, auch der Obstbau dazu."
"Ich gehe jetzt mal da oben in den Baum rein." Frank Böwingloh klappt eine Leiter vor einem der Bäume mit kleinen, bunten Kirschen aus. Vor fünf Jahren wurde er nachgepflanzt, ist noch nicht ausgewachsen und bringt noch keinen vollen Ertrag.
Das junge Exemplar einer alten Sorte entstand, indem ein Reiser, also der einjährige Trieb eines alten lokalen Baums, auf eine Unterlage, also den Unterbau eines anderen Baums, aufgepfropft wurde.
Die Schnittstellen wurden fest aufeinandergedrückt und verbunden, dass sie zusammenwuchsen. Frank Böwingloh steigt die Leiter hinauf und pflückt einige Exemplare vom "Bopparder Krächer" erst mal zu Demonstrationszwecken: "Ja, das ist eine wunderschöne Kirsche, allein die Haut, dieses Rot-Gelbe, und dieses leicht Marmorierte, das sieht schon toll aus."

Kirschnamen sind aus Mundart entstanden

"Bopparder Krächer" – ein Name aus dem 19. Jahrhundert, so alt ist die Sorte von der anderen, der Bopparder Rheinseite. "Die Kirschnamen sind viel aus Mundart entstanden. Krächer, Kräscher, das heißt, wenn wir auf die Kirsche beißen, knackt es. Das können wir ausprobieren, die ist jetzt gerade reif", Böwingloh kaut und streckt die Hand aus, bietet die kleinen, festen Knorpelkirschen an: "Die Bopparder Kräscher: knackt, wenn man drauf beißt – knack – gehört?"
Welterbe-Managerin König-Lehrmann und Obstbaumeisterin Erhardt greifen zu, kauen, spüren den frischen, spritzigen Nuancen nach. Sie wissen: Eingekocht schmecken "Bopparder Krächer" und "Dönnissens Gelbe Knorpelkirsche", die ursprünglich aus dem Brandenburgischen kommt, noch besser.
Doch die kleinen Obstkonserven- und Marmeladenfabriken verschwanden schon in den 1950er-Jahren. Für die industrielle Produktion warfen die Lokalsorten nicht genug ab. Heute aber werden sie als Spezialitäten wieder vermarktet. Schützen durch nutzen, so fasst Obstbaumeisterin Hildegard Erhardt das Konzept zusammen.
Sie zählt auf, was unter dem Namen Mittelrhein-Kirsche schon angeboten wird: "Marmelade, Leber-Paté, Kirschwein, Kirschsenf, Eierlikör mit Kirschen. Es gibt ganz viele verschiedene Sachen, die in den regionalen Geschäften gekauft werden können, auch Rewe ist da miteingestiegen, so soll die Kirsche erhalten werden. Dass die Kirschen hier nur stehen, sich keiner darum kümmert und keiner sie pflückt, wäre ja viel zu schade. Die Liebe geht durch den Magen – das ist auch bei den Kirschen so."
Die Obstbaumeisterin Hildegard Erhardt steht vor einem alten Kirschbaum im Sortengarten von Filsen am Mittelrhein.
Obstbaumeisterin Hildegard Erhardt vor einem alten Kirschbaum im Sortengarten von Filsen am Mittelrhein. © Deutschlandradio / Anke Petermann
Weil Erhardt die Kirschbäume im Sortengarten am Rheinknie von Filsen liebt, setzt sie bei den Seitentrieben des jungen Baums die Schere an: "Wenn die jetzt alle wachsen würden, die Seitentriebe da am Stamm", so Erhardt, "dann geht die Kraft für die Krone ja verloren. Und deswegen schneidet man die Seitentriebe, die sich da am Stamm bilden, weg."
Bei der Gruppe großer alter Bäume weiter hinten am Weg ist noch mehr zu tun. Darunter die "Perle von Filsen" und andere lokale Kirschbäume, so Obstbaumeisterin Erhardt, "die man mit einem Sommerschnitt nochmal in Form bekommen kann, damit sie möglichst lange erhalten werden. Das wollen wir in den kommenden zwei, drei Wochen angehen."

Mit dem Spucktuch Sorten bestimmen

Frank Böwingloh hat derweil weitere Kirschen für die wissenschaftliche Sortenbestimmung gepflückt: "Und jetzt muss ich mein kleines Spucktuch haben. Hab‘ ich in der Tasche? Ja."
Nach dem Aufbeißen legt Böwingloh die Kirsche aufgeklappt ins Tuch: "Da ist der Stein, der wird jetzt von dem restlichen Fruchtfleisch befreit ein bisschen trockengelegt, damit ich mit dem Bleistift die Nummer drauf schreiben kann, damit ich auch wieder weiß, von welchem Baum ich diesen Stein habe."
Böwingloh mustert ihn, das wichtigste optische Erkennungsmerkmal für die Sorte: "Da gibt es verschiedene Größen natürlich, Breiten, Längenverhältnisse", erklärt er. "Da gibt es so eine Naht, so eine Wulst. Je nachdem, wie breit diese Wulst ist, kann ich das schneller vergleichen in meiner Sammlung: Ist es jetzt die Bopparder Kräscher oder eine andere. Das ist eine akribische Fleißarbeit, das rauszukriegen."
Kirsch-Experte Frank Böwingloh, Welterbe-Managerin Nadya König-Lehrmann und Obstbaumeisterin Hildegard Erhardt untersuchen Kirschsteine.
Kirsch-Experte Frank Böwingloh mit Welterbe-Managerin Nadya König-Lehrmann und Obstbaumeisterin Hildegard Erhardt bei der Stein-Untersuchung.© Deutschlandradio / Anke Petermann
Rauszukriegen also, ob bei der Veredelung wirklich die gewünschte alte Sorte herangewachsen ist, damit deren Genmaterial vom Julius-Kühn-Institut in Dresden korrekt verzeichnet werden kann.
Zum Vergleich zückt Böwingloh ein Glas mit Steinen der sogenannten "Geisepitter", hochdeutsch Ziegenpeter, also eine Sorte, die mal einer von vielen Peters in einem Dorf anbaute, nämlich der mit den Ziegen.
"Die ‚Geisepitter‘ ist viel spitzer", sagt Böwingloh, "auch die Wulst ist viel breiter als bei der ‚Bopparder Krächer‘. Unter einem Mikroskop machen Sie das." Feinarbeit für die Deutsche Genbank Obst in Dresden. Als einer von neun deutschen Kirsch-Standorten versorgt Filsen sie mit pflanzengenetischem Material.
"Wir sind hier der südlichste und im trockensten wärmsten Gebiet. Für die Klimaveränderung ist das natürlich ein interessanter Punkt, um zu gucken, welche wärmeliebenden Sorten sich hier besonders gut durchschlagen, wenn es woanders auch wärmer wird."

Geschmackserlebnis mit Schrumpelkirschen

Das Erforschen alter Kirschsorten macht Arbeit. Sie zu verkosten: das reinste Vergnügen. Einzigartige Geschmackserlebnisse verschaffen besonders die winzigen getrockneten Schrumpelkirschen, die Frank Böwingloh in einem weiteren Glas dabei hat.
Die Kinder in den Mittelrheindörfern, so erzählt er, suchten früher nach Früchten, die Bauern und Gärtner am Baum zurückgelassen hatten:
"Wenn die die Kirschbäume abgeerntet haben, hingen an äußersten Spitzen immer noch Kirschen dran, an die man mit der Leiter nicht rankam. Später sind die Kinder da immer hingegangen und haben da mit dem Stock dran geschlagen. Inzwischen sind diese Kirschen mumifiziert, das heißt: Durch das trockene Klima sind die geschrumpelt wie eine Trockenkirsche. Dann haben die Kinder runtergeschlagen und gesammelt und stolz der Mutter gebracht. Die hat die Kirschen dann wieder ins Wasser gelegt und einen Pfannkuchen daraus gemacht. Das haben uns Zeitzeugen aus ihrer Kindheit erzählt."

Mehr nach Geschmack statt Schönheit gehen

Weiter auf dem Kirschenpfad. Vorbei an dicken, dünnen, großen und kleinen Bäumen aller Wuchsformen. Dazwischen ragen tote Stümpfe auf – hier baut der Wendehals seine Höhlen, Hirschkäfer krabbeln. Frank Böwingloh lässt den Blick über das Streuobstwiesen-Panorama schweifen.
"Wenn hier die Wanderer durch den Kirschenpfad laufen oder hier über diese Wiese mit dem Ausblick am Rhein – ich würde sagen: keiner findet es nicht schön", Böwingloh lacht.
Unterhalb am Hang sind tatsächlich Wanderer auf dem Kirschenpfad mit seinen Infotafeln unterwegs. Beate und Kai kommen aus Berlin: "Wir sind gerade erst auf den Weg eingestiegen, also das sind jetzt wirklich erst die ersten Meter auf dem Weg."
"Aber sehr informativ", sagt Kai "und diese Tafeln zu lesen, bestätigt, dass man nur aufs Aussehen guckt. Da sollte man sich ein Beispiel nehmen. Nicht immer nur die blank geputzten Äpfel oder die blank geputzten Kirschen nehmen und mehr nach Geschmack und nicht nach Schönheit zu gehen."
Kai ist gebürtiger Bopparder. Dass seine Heimatstadt mit dem "Bopparder Krächer" eine eigene Kirschsorte hervorgebracht hat, lernt der Wahl-Berliner erst hier.
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