"Als sei ich der Leibhaftige gewesen"

Günter Grass im Gespräch mit Sigried Wesener · 08.03.2010
Nach Durchsicht seiner Stasi-Akten kommt der Schriftsteller Günter Grass zu dem Schluss, dass die Staatssicherheit der DDR seine Person und seinen Einfluss extrem überschätzt hat. Sie habe sich verhalten, als habe er DDR-Autoren zur Konspiration oder zur Flucht überreden können. Nichtsdestotrotz spiegelten die Stasi-Akten, die jetzt als Buch erscheinen, einen Teil der deutsch-deutschen Kulturgeschichte mit all ihren Streitfällen wider.
Sigried Wesener: 28 Jahre stand in Berlin die Mauer, 28 Jahre waren Sie, Günter Grass, im Visier der Staatssicherheit der DDR. Inwieweit stimmen die eigenen Erfahrungen, die eigenen Erinnerungen mit denen, die die Staatssicherheit da aufgeschrieben hat, überein?

Günter Grass: Also ironischerweise müsste ich ja dem Staatssicherheitsdienst dankbar sein, weil diese 2000 Seiten, die mir nach und nach ins Haus geschickt wurden, eine wunderbare Gedächtnisstütze sind, zumindest was die Daten betrifft und die groben Einzelheiten.

Man merkt es an den Berichten, dass die eingesetzten Informanten über Literatur nicht viel Bescheid wussten: Die Namen der westdeutschen Autoren sind zum Teil falsch geschrieben, selbst die der DDR-Autoren. Und die Einschätzung, um nur dieses eine Detail in den 70er-Jahren rauszugreifen, also wie wir mehrere Jahre bis zur Ausweisung Biermanns immer wieder von Westberlin mit Autoren rüberfuhren und in Privatwohnungen bei den einzelnen DDR-Autoren, bei Schädlich, bei Kunert, bei Sarah Kirsch und so weiter, uns trafen und uns aus Manuskripten vorgelesen haben. Sie sind nie hineingekommen, sie haben uns immer nur bis zur Wohnung begleiten können und zurück, wenn wir um Mitternacht wieder zum Palast der Tränen mussten, und nach Westberlin rübergingen.

Was natürlich für mich neben all dem Langweiligen und Dürftigen, was in den Berichten steht, interessant war, dass sich ja doch ein Stück deutsch-deutscher Kulturgeschichte mit all den Streitfällen widerspiegelt, es geht nicht nur um meine Person, sondern um das, was verhandelt wurde, und was streitbar verhandelt wurde, und was ignoriert wurde, übrigens auf beiden Seiten.

Wesener: Aber stimmt der fremde Blick mit dem eigenen Blick überein?

Grass: Nein, das stimmt nicht überein. Also ich meine, allein schon die Überschätzung meiner Person und meines Einflusses, also als sei ich der Leibhaftige gewesen, der versucht hat, dort Konspiration aufzubauen oder die DDR-Autoren zu überreden, in den Westen zu kommen, was nicht stimmte. Das waren die Ängste und Vermutungen, die Hybris, die innerhalb des Staatssicherheitsdienstes waltete und zu diesen aberwitzigen Anstrengungen geführt hat, die gescheitert sind. Der Staatssicherheitsdienst, trotz des aufgeblähten Apparates, war nicht in der Lage, diesen Staat so zu schützen, wie sie es vorhatten.

Sein eigentlicher Erfolg, das ist meine Einsicht danach, war nach dem Fall der Mauer, als es zur Einheit Deutschlands kam und auf einmal aus westlicher Sicht, nachdem die Stasiakten auftauchten, die gesamte Bevölkerung der DDR unter Stasiverdacht stand, weil man auf fahrlässige Art und Weise, bis in die Gauck-Behörde, das hat sich jetzt mittlerweile Gott sei Dank gegeben, das, was in den Berichten steht, wie Wahrheit gewertet hat. Man hat außer Acht gelassen, dass ein Großteil dieser Informanten unter Druck standen oder den Ehrgeiz hatten, ihrem Führungsoffizier, dem Stasi-Führungsoffizier gefällig zu sein, möglichst was abzuliefern. Das wurde dann niedergelegt in Akten, die erhalten sind, zum Schaden der DDR-Bevölkerung als Wahrheit gewertet.

Wesener: Sie haben ja immer gewarnt davor, dass man eben diese Akten nicht für bare Münze nur nehmen sollte, sondern diese Prosa der Staatssicherheit hinterfragen müsste. Welchen Stellenwert nimmt dennoch die Stasiakte in Ihrem Werk, für Ihre eigene Arbeit ein?

Grass: Das sind natürlich zum Teil auch Überraschungen. Ich habe zwar vermutet, dass ich irgendwann mal überwacht werde, aber nicht von 1960/61 an, und eine der Überraschungen war, dass Hermann Kant von dieser Zeit an schon zu den Topinformanten gehörte, also einer der Intellektuellen innerhalb der Schriftstellerszene der DDR war er von Anfang an dabei. Eine andere Enttäuschung ist der Verleger Hans Marquardt, den ich eigentlich als Verleger schätzte, weil er innerhalb der DDR relativ mutig war.

Wesener: Mit dem Sie bis 1989 auch Kontakt hatten?

Grass: Ja, nahezu befreundet und hat uns eingeladen. Wir waren dort ein, zwei Tage zu Gast, und dass er die Gespräche, die wir dort geführt haben, auf sehr angeberische Art und Weise – auch das muss man dazusagen – als Bericht an den Staatssicherheitsdienst gegeben hat, das ist schon übel. Ich habe mich ja jahrelang geweigert, überhaupt Einsicht zu nehmen in diese Akten, weil ich nachweisbar keinen unmittelbaren Schaden erlitten habe.

Wesener: Sie kennen aber die vollständige Akte?

Grass: Es kommen immer wieder neue Sachen, also man hat mir auch signalisiert, es ist noch nicht alles gefunden worden.

Wesener: Schon fünf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer waren Sie quasi im Visier der Staatssicherheit. Es ist auf jeden Fall überraschend, Günter Grass, dass Sie über diese lange Zeit den Blick Richtung Osten gewandt haben, dass Sie immer wieder in die DDR gefahren sind, dass Sie mit Intellektuellen in der DDR gesprochen haben, während andere ja sich doch eher nach Westen ausgerichtet haben, auch nach Amerika. Wie kam diese lange Zuneigung nach Osten?

Grass: Im Gegensatz zu Darstellungen, wie sie in westdeutschen Zeitungen, mich betreffend, vor allen Dingen nach '89 zu finden waren, habe ich selbst dann, als niemand mehr in Ost und West an eine Vereinigung glaubte, immer daran festgehalten, dass wir eine Kulturnation sind. Dass man zwar machtpolitisch, was im Kalten Krieg deutlich der Fall war, wirtschaftlich, in allen möglichen Bereichen, ein Land trennen kann, aber die Kultur, die Künste insgesamt, und insbesondere auch die Literatur, ist grenzüberschreitend. Es hat immer und sei es streitbar, einen Dialog zwischen Literaten in Ost und West gegeben.

Wesener: Später gab es in den 80er-Jahren, Günter Grass, die offiziell organisierten Treffen – Berliner Begegnungen. Was war für Sie wichtiger, diese privaten Schriftstellertreffen oder später diese offiziellen, dann auch öffentlich publizierten und wahrgenommenen Begegnungen?

Grass: Die offiziellen Berliner Begegnungen, das war eine Initiative, die von Stephan Hermlin ausging, und damit hat er sich in der DDR-Führung viele Feinde gemacht, das war nicht zu verhindern, und auch Hermlin hat es nicht zu verhindern versucht, dass bei dieser Berliner Begegnung eben nicht nur über Pershing-II-Raketen, sondern über die sowjetischen SS-20-Raketen gesprochen wurde.

Und man muss dazu sagen, dass eben dann doch also einige Schriftsteller, die dort auftauchten, überängstlich waren, also auf DDR-Seite. In der DDR gab es derzeit schon diese Bewegung "Schwerter zu Pflugscharen", da gab es viele junge Leute, die sich gefährdet haben, indem sie gegen die Raketensysteme beider Machtblöcke waren, also gegen SS-20- wie Pershing-II-Raketen.

Was ja auch gleich zu Beginn berichtet wird, mein Auftritt auf dem Schriftstellerkongress, gut, da war meine Rede, in der ich für Uwe Johnson Partei ergriffen habe und die Zensur in der DDR beklagt habe, das war sicher ein Thema, aber das andere Thema war Stephan Hermlin. Der wurde damals heftig angegriffen, die haben ihn wegen seinem bürgerlichen Kulturverständnis angegriffen, und er hat fabelhaft darauf reagiert und hat aus seinem Wissen, aus seiner Kenntnis heraus gezeigt, was das bedeutet, bürgerliche Literatur, und dass man dazu stehen müsse.

Und aus dieser Haltung heraus, und aus der Haltung als Kommunist, der er war, dazu hat er sich ja bekannt, nahm er eine abgewogene Oppositionsrolle ein. Er hat sich übrigens auch – was viele Kritiker Hermlins aus dem Westen immer vergessen – er hat damals gegen die Ausbürgerung von Biermann mit protestiert, das gehört auch dazu.

Wesener: Das ist ja eine wichtige Zäsur, nicht nur in der deutschen Kulturgeschichte, nämlich die Ausbürgerung Wolf Biermanns, das Jahr 1976 ... Und alle Gesprächspartner in der DDR waren nachher Kollegen in der Bundesrepublik für Sie. Wie empfinden Sie dies im Nachhinein, war Ihnen wichtig, die Oppositionsrolle dieser Autoren zu stärken, sie bestärken, ihre Literatur weiterzubetreiben, wie sehen Sie das im Nachhinein?

Grass: Das betrifft nicht nur die Schriftsteller. Es wird ja auch in den Stasiberichten erwähnt, bei den Lesereisen habe ich immer drauf bestanden, dass es eine Diskussion gibt. Und in der Schlussphase mit dem Verlag Volk und Welt organisierten und genehmigten Lesereise, ob in Erfurt oder Halle ...

Wesener: 1987 war die.

Grass: Ja. ... kamen dann Fragen aus dem Publikum: Sollen wir Ausreiseantrag stellen, ja oder nein. Was für mich als aus dem Westen kommend, was ich auch zugegeben habe, schwer zu beantworten ist, aber meine Antwort war dann die: Ich kann jeden verstehen, dem es hier zu eng ist und der sich freier bewegen will und dem der Druck auf Dauer nicht träglich ist, aber wenn alle, die in Opposition zu den Verhältnissen stehen, das Land verlassen, ist die Opposition geschwächt, dann bleibt es bei diesen Verhältnissen. Und ich habe ähnlich den Schriftstellern gegenüber mich geäußert.

Und es kommt ja nun noch eins hinzu, das ist sicher eine nachträgliche Einsicht, die man gewinnt: Viele Autoren, die aus der DDR in die Bundesrepublik wechselten, verloren die Reibfläche, die auf ihre Art und Weise widerständig und sei es verklausuliert und zwischen den Zeilen sich geäußert hatten, waren nun im Westen, der ihnen im Grunde fremd war, an dem sie sich nicht reiben wollten und konnten und haben ihr Thema verloren und auch damit natürlich ein Stück literarisches Niveau.

Wesener: Und möglicherweise auch ihr Kritikbewusstsein.

Grass: Der eklatante Fall Biermann. Biermann, der auf eine treffend und witzige und auch gekonnte Art und Weise, wie sie in Deutschland selten ist, sich an den Verhältnissen der DDR und sich als Kommunist verstehend in kritischer Opposition zu dieser Art von Realsozialismus geäußert hat, ist im Westen wie zahnlos gewesen. Das bedaure ich, empfinde ich als Verlust.

Wesener: Andererseits hat Günter Kunert zum Beispiel mir erzählt, dass er in der DDR nicht mehr schreiben konnte, dass er da mundtot war, also nicht nur, weil er quasi Berufsverbot hatte, sondern er hatte auch kein Thema mehr, und lebt ja seit 1979 in Hamburg und dann in Kaisborstel.

Sie haben zu Beginn gesagt, Günter Grass, dass Sie Ihre Rolle, die Ihnen die Staatssicherheit zugedacht hat in diesen Akten, überzogen empfinden heute. Waren Sie sich über die Wirkungen Ihrer Auftritte, Ihrer Besuche damals im Klaren?

Grass: Nein. Es war ein kollegiales Verhältnis und das, was ich auch vorher sagte, das Bedürfnis, nicht den Kontakt zu verlieren, und natürlich mein Verständnis dieser Teilung Deutschlands, der Fortbestand der Kulturnation, das war mir wichtig. Das hat sich ja auch in anderen Reden, das ist ja auch eine These, die auch in Westdeutschland auf Widerstand stieß. Diese Zweistaatlichkeit ist ja nicht nur von der DDR betrieben worden. Vom Mauerbau an, auch die Mauer ist ein gesamtdeutsches Machtwerk gewesen. Man muss aufpassen, dass dies nicht nachträglich so eine besserwisserische Geschichtsschreibung hineinkommt, die den Westen so darstellt, als habe man dort immer an die Wiedervereinigung gedacht. Also was Separatismus betrifft, da konnten sich Ulbricht und Adenauer das Wasser reichen.

Wesener: Dennoch hatten Sie zeitweilig, zumindest in den 60er-Jahren, wie der Staat DDR ein Feindbild, das war die Adenauer-Republik. Sie sprechen immer wieder von der grauen und sehr dumpfen Adenauer-Zeit. Gab es irgendwelche Versuche, Sie anzuwerben von der Staatssicherheit, Sie auch wiederum in den Dienst zu nehmen, möglicherweise auch abzuschöpfen?

Grass: Nein, hat es nie gegeben. Man merkt ja in den Berichten, das, was den Staatssicherheitsdienst und die Führungsleute dort verunsichert hat, dass ich nicht in ihre Raster hineinpasste, weil ich mich ja nicht nur kritisch der DDR gegenüber, sondern auch kritisch in Verhältnissen der Bundesrepublik gegenüber geäußert habe. Und es kommt sicher hinzu, dass ich mich auch deutlich als Sozialdemokrat zu erkennen gab und sich für einen demokratischen Sozialismus aussprach.

Das war für diese Leute gefährlicher als Franz Josef Strauß. Mit Franz Josef Strauß hat man Geschäfte machen können. Auf kungelige Art und Weise. Mit mir nicht.

Wesener: Wir sprechen über das Buch von Kai Schlüter, "Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte". Günter Grass, Sie sind als Widerborst, als Kritiker bekannt und auch sehr geschätzt, gerade auch in Bezug auf die DDR, weil Sie auf der einen Seite nicht so blauäugig waren, aber das Existenzrecht natürlich immer auch nie abgesprochen hatten.

Grass: Ja, der Ärger fing ja dann an, also als die DDR nicht mehr existierte und ich sehr früh bemerkte und mich auch dazu zu Wort gemeldet habe, dass diese ungeheure Chance, dass wir zu einer Einigung kommen könnten, zwischen den 60 Millionen im Westen und den übrig gebliebenen 18 Millionen in der DDR, dass das in einem Ruckzuck-Einheitsprozess unter Missachtung der Verfassung der Bundesrepublik nur über den Anschlussartikel 23 vollzogen wurde und zu einer ungeheuren und folgenreichen Enteignung geführt hat – über die Treuhand und alles, was damit zusammenhängt. Ein Schaden, der kaum noch auszugleichen ist, denn so was vererbt sich ja leider. Die Tatsache, dass das Gebiet der ehemaligen DDR heute zu 90 Prozent dem Westen gehört, ist ein schreckliches Ergebnis dafür. Ich will das nicht alles aufzählen. Jedenfalls das hat den nachhaltigen Ärger gebracht – auf einmal galt ich als ein Feind der Einheit.

Also ich muss jetzt noch mal daran erinnern, als manche in West und Ost, ja, überhaupt nicht mehr daran geglaubt haben, dass es zu einer Einigung zwischen den beiden Staaten kommen konnte, habe ich dafür gesprochen. Ich habe mit Stefan Heym noch vor dem Verfall der DDR – das steht übrigens nicht in den Stasiakten – in Brüssel bei einer Veranstaltung des Goethe-Instituts haben wir uns Gedanken gemacht, was passiert eigentlich, wenn die Mauer eines Tages weg ist.

Wesener: Stefan Heym wiederum hat in seinem Buch "Nachruf" davon gesprochen, dass von der DDR aus seiner Perspektive – und da gab es die DDR noch – möglicherweise nur eine Fußnote in der Geschichte übrig bleibt. Was bleibt aus Ihrer Perspektive von diesem Land und der Erinnerung an dieses Land DDR zurück?

Grass: Na ja, also erst mal, was ich vorhin erwähnt habe, die Folgen einer verpfuschten Einheit, so kann man sich vorstellen, dass dieser Enteignungsprozess also auch weiterhin Folgen hatte und dass eine partielle Armut und Verarmung dieser Region noch weiterhin und auch längere Zeit zeichnen wird. Natürlich wird das – es fängt jetzt schon an –, junge Menschen, nach dem Fall der Mauer geboren, werden anders damit umgehen, das ist auch gut so, und irgendwie wird sich das zusammenwuchern. Willy Brandts Satz, "jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört", ist zwar eine wunderbare Wunschvorstellung gewesen, aber der Prozess ist leider eben kein Zusammenwachsen gewesen.

Wesener: Es war eine Menge Hoffnung auch in diesem Satz.

Grass: Na ja, sicher eine Hoffnung, aber es hat einfach so eine Art westliche Siegermentalität den Ton bestimmt, nicht die Einsicht. Und das wäre notwendig gewesen, dass diese 18 Millionen Menschen in der DDR, die noch damals da waren, die Hauptlast des von allen Deutschen begonnenen, verbrecherisch geführten und verlorenen Krieges zu tragen hatten. Und das ist nicht beachtet worden. Die erste Rede, die ich vor der SPD gehalten habe, also noch '89, im November '89, hieß "Rede vom deutschen Lastenausgleich". Aber was ist geschehen? Eben nicht dieser Lastenausgleich – Kohl hat sich gefürchtet, die Steuern zu erhöhen, was richtig gewesen wäre, und hat eine Einheit auf Pump gemacht. Damals fing das große Schuldenmachen an, an dem wir heute an übergroßem Maße zu tragen haben, vor allen Dingen die nächste Generation.

Wesener: Sie sind ein Mahner, nicht nur in dieser Hinsicht, sondern eher auch mit einem eher – ich sage es vorsichtig – grauschwarzen Blick möglicherweise, also weniger einer, der aus Begeisterung heraus spricht als eher aus einer Besorgnis. Stimmt dies heute für Sie noch?

Grass: Natürlich habe ich mich wie alle Menschen gefreut, als die Mauer fiel. Aber ich muss sagen, mein Zorn darüber, wie man dann damit umgegangen ist, und ohne jede Not umgegangen ist, das erfüllt mich nach wie vor mit Zorn. Viele Warnungen, nicht nur von mir, der damalige Präsident der Bundesbank, Pöhl, hat davor gewarnt, als die D-Mark eingeführt wurde über den Wechselkurs, welche Folgen das haben könnte, vor der Treuhand, vor den Machenschaften, die halb kriminell waren, von den kriminellen Machenschaften wissen wir nur die Spitze des Eisberges.

Wesener: Spricht daraus auch die Sorge um die Zukunft dieses Sozialstaates?

Grass: Wir hatten mal ein wunderbares Grundgesetz, eine wunderbare Verfassung, und die ist in ihrer Substanz geschmälert worden. Also vieles, was dort steht und was gut klingt und auch richtig ist und wozu ich stehe als Verfassungspatriot, wird in der Wirklichkeit nicht eingelöst, zum Beispiel, dass jeder vor dem Gesetz gleich ist. Die Praxis zeigt es, dass das nicht stimmt. Dann hat man, was mich empört hat, mit Stimmen der Sozialdemokraten auf Drängen der CDU/CSU ein Kronjuwel der Verfassung, den Asylparagrafen, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, was ich als Verlust ansehe, und nie hätte ich mir träumen lassen, dass ein Land wie die Bundesrepublik derartig von Korruption erschüttert werden könnte – wie wir es erleben gegenwärtig. Auch dass man das Erfolgsrezept der Bundesrepublik, der westlichen Bundesrepublik, also noch vor der Einheit, die sogenannte soziale Marktwirtschaft im Grunde aufgegeben hat und im Zuge des Neoliberalismus dazu beigetragen hat, dass wir nahezu wieder eine Klassengesellschaft haben, einen Rückfall in die Klassengesellschaft – das sind Zerfallserscheinungen.

Wesener: Dennoch schafft es die älteste deutsche Partei, die sozialdemokratische Partei, nicht Mehrheiten für ihre Programme zu gewinnen.

Grass: Ja, das ist, das kränkt mich sehr und das macht mich in dem Sinne nicht mutlos, also ich bleibe weiterhin Sozialdemokrat und bin … Ich glaube, wir hätten in Deutschland allen Grund, stolz zu sein, dass in einer Geschichte, die von Brüchen und Verlusten gezeichnet ist, wir eine politische Organisation haben, nämlich die SPD, die seit jetzt annähernd 150 Jahren besteht und die aus der deutschen Geschichte nicht wegzudenken ist. Alles, was wir an sozialer Sicherheit haben, verdanken wir – mit all ihren Fehlern und Nachteilen, die diese Partei auch hat – dieser SPD. Und das ist mit ein Grund, warum ich sie unterstütze. Kritisch unterstütze, aber es bleibt dabei.

Wesener: Sie sind Ihrer Zeit häufig weit voraus, mit Ihren Fähigkeiten, vorauszuschauen, auch Finger in die Wunden und wirklich auf die Wunden zu legen, und haben schon in den 90er-Jahren ja diesen Roman geschrieben, "Ein weites Feld", der von der Kritik auch sehr kritisch und sehr verschieden und sehr ...

Grass: Und wie der niedergemacht worden ist.

Wesener: ... verrissen wurde und kritisch aufgenommen wurde.

Grass: Ich erinnere mich, ja.

Wesener: Spielt für Sie diese Erfahrung mit Geheimdiensten, Agententum, da ist ja auch die Figur von Joachim Schädlich aufgenommen, dieser "Tallhover" in "Hoftaller" – spielt das literarisch für Sie noch eine Rolle, ist es für Sie literarisch überhaupt noch interessant und ein Stoff, über den Sie nachdenken mögen?

Grass: Ja, nach wie vor. Also ich halte erst mal meinen Roman "Ein weites Feld" für ein gelungenes Buch und für eins meiner besten, und ich bin sogar sicher, dass es sich halten wird, also trotz der vernichtenden, Vernichtungsversuches, der regelrecht vonstatten ging, als das Buch erschien. Wer das Buch genau liest, wird ja sehen, dass ich mich ja nicht einfach verengt habe auf den Zeitraum des geteilten Deutschlands nach '45, sondern durch Fontane den ersten deutschen verhängnisvollen Einheitsversuch mit Bismarck, also auf Blut und Eisen gründend, auf drei Kriege gründend, mit einbeziehe und diese Geschichtsebenen miteinander verschränke und überhaupt an dieser Art des Schreibens mein Vergnügen finde und auch zu Ergebnissen komme. In dem Sinne wird natürlich das, was Sie fragend angesprochen haben, bei mir weiterhin bleiben. Nicht nur bei mir. Ich glaube, dass auch zunehmend in der Literatur eine – das ist ihre Aufgabe – eine differenzierende Rolle spielen wird.

Wesener: Ein neues Prosabuch, ein neuer Prosaband ist in Arbeit. "Grimms Wörter", so ist der Titel des Romans.

Grass: Ja, der erscheint im Herbst. Das ist eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache und ist auch im Grunde, es geht sicher um die Grimms und um die Entstehung des deutschen Wörterbuchs, aber auch in literarischer Form eine Fortsetzung meines autobiografischen Schreibens. Auch das hat natürlich, wenn man vom 19. Jahrhundert also und diese Zeitspanne in Blick nimmt, in der die Grimms gewirkt haben, spielen Vorläufer, Spitzel und Überwachungssystem eine Rolle. Ganze Demagogen verfolgen, das Metternich'sche System ist ja fortgesetzt worden, und zwar nicht nur im Osten, im Westen auch. Also CIA ist eine grauenhafte Organisation, eigentlich noch übler zu bewerten, weil sie in einem demokratischen Staat entstehen konnte.
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