Als Marx vor den Roten warnte

Rezensiert von Michael Schornstheimer · 08.09.2013
Er war für den Freihandel und gegen "kommunistische Dogmen". Er geißelte seine früheren Ideen, ohne Selbstkritik zu üben. Er erfand die Arbeiterklasse, um seinen Ambitionen Flügel zu verleihen. Karl Marx war alles andere als ein Marxist, meint sein amerikanischer Biograf Jonathan Sperber.
Jonathan Sperber deutet Karl Marx nicht als Vater des real existierenden Sozialismus, sondern als Zeitgenossen der Französischen Revolution: Wenige Jahre vor seiner Geburt waren französische Revolutionstruppen in seine Geburtsstadt einmarschiert. Sie rissen Trier aus einem tiefen Schlaf. Alles geriet in Umbruch.

Vater Heinrich trat vom Judentum zum Protestantismus über. Dank der neuen napoleonischen Gesetze konnte er eine Anwaltskanzlei eröffnen. So kam die Familie Marx zu Ansehen und Wohlstand. Karl durfte das Gymnasium besuchen und studieren, zunächst in Bonn, dann in Berlin.

Dort tauchte er in die Philosophie Hegels ein und schloss sich den sogenannten Junghegelianern an. Sie bekannten sich zum Atheismus und vertraten demokratische und republikanische Ideen.

"Mit der gleichzeitigen Radikalisierung ihres Denkens und dem zunehmenden konservativen Kurs der Regierung waren ihre Bestrebungen zum Scheitern verurteilt: An deutschen Universitäten war Mitte des 19. Jahrhunderts kein Platz für Atheisten und Demokraten. Keiner der Junghegelianer sollte eine akademische Stellung erlangen; ihnen blieb nur die Betätigung als freie Schriftsteller, Journalisten und die Ausübung anderer, finanziell unsicherer Berufe."

Dieser Berufsweg war auch Karl Marx vorgezeichnet. 1842 übernahm er die Redaktionsleitung der Rheinischen Zeitung. Schnell machte er sich einen Namen. Einer seiner ersten Artikel war ein flammendes Plädoyer für die Pressefreiheit und ein Frontalangriff gegen ihre Feinde, insbesondere die preußische Regierung.

Radikale aus aller Herren Länder
Gleichzeitig trat er für den Freihandel ein und wetterte gegen jedwede "kommunistischen und sozialistischen Dogmen". Trotzdem verbot die preußische Regierungsbehörde das Blatt. Der Antikommunist Karl Marx wurde arbeitslos. Frisch verheiratet beschloss er, nach Paris zu emigrieren.

"Das Leben in Paris brachte Marx auf Tuchfühlung mit Radikalen aus aller Herren Länder."

Karl Marx radikalisierte sich. Mit seinen neuen Aufsätzen entdeckte er die Arbeiterklasse als das Subjekt und die treibende Kraft der Geschichte.

"Man könnte überspitzt sagen, Marx habe aus politischen Gründen die Arbeiterklasse erfunden, um nach seinen frustrierenden Erfahrungen mit der autoritären preußischen Herrschaft seinen Ambitionen Flügel zu verleihen."

Autor Jonathan Sperber gliedert seine Biografie von mehr als 600 Seiten in drei Abschnitte: Die Prägung. Der Kampf. Das Vermächtnis. Er rekapituliert die wichtigsten Schriften von Marx und skizziert ihre Entstehung im Spiegel seiner Freundschaften und Feindschaften.

"Marx nahm sich seine früheren Ideen vor und projizierte sie auf andere Denker; auf diese Weise konnte er sie geißeln, ohne Selbstkritik üben zu müssen.

Er sollte sich dieser Taktik auch in späteren Arbeiten bedienen, insbesondere beim 'Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte'. Es war dies die einzige Form von Selbstkritik, die seine Persönlichkeit zuließ."


Damit erklärt Sperber, warum viele Artikel und Aufsätze sich ätzend und polemisch gegen ehemalige Bekannte, Freunde und Weggefährten richteten: Pierre-Joseph Proudhon, Bruno Bauer, Moses Heß, Ferdinand Lassalle und Wilhelm Liebknecht.

Völlig unklar waren die erreichbaren politischen Ziele. Eine Revolution schien möglich. Zumindest 1848. Die Nationalversammlung in Frankfurt forderte Bürger- und Freiheitsrechte und wollte König Friedrich Wilhelm als Kaiser demokratisch legitimieren. Der lehnte empört ab. Ein Schlag ins Gesicht der bürgerlichen Revolutionäre.

"Marx und Engels warnten die Arbeiter vor diesen Leuten, die sich selbst "Rote" und "Republikaner" nannten, in Wirklichkeit jedoch die Hauptgegner des Proletariats seien.

Das radikal klingende politische und sozioökonomische Programm dieser Demokraten werde das Leben der Arbeiterschaft allenfalls vorübergehend erträglicher machen."


Detailliert zeichnet Jonathan Sperber Marxens Radikalisierungsprozess nach. Er resümiert dessen Kritik der Politischen Ökonomie. Vor allem die der sogenannten "Grundrisse" und seines Hauptwerkes, "Das Kapital", dessen zweiten und dritten Band sein lebenslanger Freund Friedrich Engels aus Manuskripten erst postum konstruierte.

Cover Jonathan Sperber: "Karl Marx"
Cover Jonathan Sperber: "Karl Marx"© C.H.Beck Verlag
Prekäre Verhältnisse - Engels musste einspringen
Manchmal scheint es, als verschwänden hinter all diesen Theorien die realen Personen. Doch immer wieder gelingt es Sperber, den Bogen zu schlagen zu dem Menschen Karl Marx, seiner Familie, seinen Feinden und Freunden, insbesondere zu Friedrich Engels.

Anschaulich schildert der Autor die prekären Verhältnisse: Ein gutbürgerliches Leben. Allerdings auf Pump. Ständig Schulden. Beim Bäcker, beim Lebensmittelhändler, beim Schneider. Erst im vorgerückten Alter halfen zwei Erbschaften, das Dauerdefizit zu lindern. Vorübergehend. Bis wieder der wohlhabende Friedrich Engels einspringen musste.

Besonders bedrückend waren die ersten Jahre im Londoner Exil, wo die größer werdende Familie zunächst in einer winzigen, möblierten Pension hauste. Marx hatte sechs eheliche Kinder und ein uneheliches. Das letzte Kind kam tot zur Welt. Zwei starben, bevor sie erwachsen wurden.

Auch Jonathan Sperber kann letztlich nicht erklären, wie das Leben dieses Mannes eine solche Wirkungskraft entfesseln konnte. Gegenüber seinem Schwiegersohn äußerte Karl Marx einmal:

"Eins ist sicher, ich bin kein Marxist."

Nach der Lektüre der Biografie kann man sich fragen, wie sinnvoll eine solche Charakterisierung je gewesen ist.

Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert
Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Giese und Karl Heinz Silber
C.H. Beck Verlag, München, März 2013
634 Seiten, 29,95 Euro
Auch als e-book
Mehr zum Thema