Als die heile Welt zusammenbrach

Vorgestellt von Martin Ahrends · 20.06.2010
Die Finanzkrise stürzt Island in den Ruin. Banken wurden verstaatlicht, und der Staat stand kurz vor dem Bankrott - damit setzt sich Einar Mar Gudmundsson in seinem Buch "Wie man ein Land in den Abgrund führt" auseinander.
Der isländische Autor Einar Már Gudmundsson hatte mit seinem Roman "Engel des Universums" von 1993 internationalen Erfolg, es gelang ihm, sich nachfühlbar in die Innenwelt eines so genannten "Geisteskranken" hineinzuversetzen, in ein Universum das uns Normalsterblichen gemeinhin verschlossen bleibt.

Gudmundsson selbst führt das Leben eines Einsiedlers; den Garten seines abgelegenen Hauses in karger Graslandschaft zieren in Stein gehauene Gesichte, ein selbstgebautes Xylophon aus Steinplatten klingt ebenso eigenartig, wie dieser Mann auf seine eigene Art zu leben, zu schreiben und zu malen weiß; seine Aquarelle waren jüngst im Kunstmuseum von Reykjavik zu sehen. Das gern zurückgezogene Leben des Autors endete, als die Nachricht vom drohenden Staatsbankrott sein Land und die Welt schockierte.

In der isländischen Finanzkrise von 2008 gingen Tausende jeweils samstags vor das Parlament in Reykjavik, um gegen eine Politik zu protestieren, die das Land, wie es hieß, der Treibjagd des internationalen Kapitals ausgeliefert hätte. Die Proteste, an denen auch Gudmundsson maßgeblich beteiligt war, führten 2009 zum Rücktritt der Regierung.

"Und dann geschah das Komische. Die Politiker verloren die Sprache, ihre Sprache griff nicht mehr. Phrasen, mit denen sie emporgekommen waren, wurden lächerlich."

Der Politik geht die Sprache aus, schreibt Gudmudsson und behauptet, dass sie uns deshalb noch lang nicht ausgehen muss, im Gegenteil. Sein Buch ist die Selbstbehauptung gegen eine ohnmächtige Sprachlosigkeit: Gudmudsson verhöhnt die "Privatisierungsparty", mit der ein Prozess begann, an dessen Ende seinem Volk "der Stuhl vor die Tür gesetzt" worden sei. Er spricht von der "Inflation des Schmerzes", vom "Inflationswolf", der sich über den lebendigen Reichtum des Landes hergemacht habe. Er findet Worte, die sich von den üblichen Nachrichten im Banne der Zahlen wohltuend unterscheiden.

"Hat sich die Epoche der freien Marktwirtschaft um irgendwelche Regeln geschert? Wenn wir dies unter dem Vorzeichen der Edda-Dichtung betrachten, die man als sittliche Botschaft des isländischen Kulturerbes betrachten könnte, dann stellt sich die Frage, ob es möglich gewesen wäre, die Menschen zu zähmen, die vom Geld zu Affen gemacht wurden. Dafür zu sorgen, wäre den Regierungen zugekommen, doch wie es scheint, wurden sie von den Affen gezähmt. Wie konnte das geschehen."

Weil er es für seine staatsbürgerliche Pflicht hielt, hat er sich als Publizist jener Sphäre zugewandt, die eigentlich nicht die seinige ist. Wertvoll an dieser politischen Publizistik ist für uns andere Europäer wohl vor allem die Haltung des Isländers: Er verteidigt die Würde seines vom Staatsbankrott bedrohten, vor allem aber beschämten, gedemütigten Volkes, und er stellt sich der Verantwortung, die jeder Bürger, so auch Künstler und Intellektuelle, für die Aufklärung, und sei es die Selbstaufklärung, tragen.

Der Leser ist Zeuge einer wütenden bis verzweifelten Suchbewegung, die Gudmundsson in der ihm eigentlich fremden Sphäre der Politik und des Geldes vollführt, Zeuge der offenbaren Verständnisgrenzen, die auch die unseren sind, und die er sich nicht scheut, öffentlich zu machen. Nicht nur er, wir alle stehen vor dieser Krise wie vor einer Art von Vulkanausbruch, einem Naturereignis, das man nicht bis ins Letzte verstehen kann, zu dem man sich aber gleichwohl verhalten muss.

"Der Markt soll frei sein, aber das Volk nicht. Das war das Gebot des Tages, das Gebot der freien Marktwirtschaft. Und das wollen wir ändern. Wir wollen den Markt binden und die Leute befreien."

Gudmundsson holt uns ab beim Unverständnis der sich ins virtuelle verflüchtigenden internationalen Finanztransaktionen, er holt uns ab bei unserer ohnmächtigen Wut, die schimpfen möchte, Schuldige benennen und radikale Lösungen aufzeigen. Gudmundsson behauptet die Legitimität unserer uneingeweihten Sicht der Dinge.

Wir haben der Krise mental wenig entgegenzusetzen, solang wir glauben, den Finanzfüchsen und ihren "Leerverkäufen" nur dann auf Augenhöhe zu begegnen, wenn wir ihre Sprache sprechen. Gudmundsson behauptet, dass auch in dieser scheinbaren Sondersphäre seine, unsere Sprache Geltung hat, die Sprache der Edda und der Isländersagas.

"Du, der du mit einer Insel im Herzen / mit den Weiten des Universums / und Pflastern unter den Fußsohlen lebst: Reich mir die Nordlichter! / Ich will mit dem Knaben tanzen, / der die Sterne umarmt. Wir ziehen dem Dunkel die Haut ab / und köpfen das Elend."

Jedes seiner Kapitel leitet er mit einem eigenen Gedicht ein: Das sind Geltungen ganz anderer Art. Poesie ist auch eine Währung. Sie bewertet all die Dinge, die nun in Island unter den Hammer kommen sollen, in einer Art, die sie unschätzbar macht und unveräußerlich.

Das Authentische setzt sich zur Wehr gegen die große Egalisierung: Der internationalen Sprache des Geldes setzt Gudmundsson seine Insel-Sprache mit ihren Sonderungen entgegen. Um dies zu betonen, hat man im Hanser Verlag Eigennamen mit speziellen isländischen Schriftzeichen gesetzt.

Für die Aufklärung, die man mit diesem Buch durchaus über die Zusammenhänge zwischen isländischer Politik und internationalem Kapital gewinnen kann, ist Gudmundsson als Autor nicht zuständig. Zuständig erklärt er sich hingegen für ein Selbstbewusstsein, das es jedem von der "Finanzkrise" betroffenen Europäer erlaubt, sich in seiner eigenen Sprache zur Wehr zu setzen.

Die Zahlensprache des Geldes ist international, widersprechen - so zeigt dieses Buch - kann man ihr in allen Sprachen, wenn man dem lockenden, dem drohenden Geld andere Geltungen entgegensetzt und so das verkehrte Verhältnis von Mittel und Zweck vom Kopf auf die Füße stellt: Das Geld ist bloß ein Zahlungsmittel, und der Sinn des Lebens ist – mit Goethe - das Leben selbst.

Einar Mar Gudmundsson: Wie man ein Land in den Abgrund führt
Cover: "Einar Mar Gudmundsson: Wie man ein Land in den Abgrund führt"
Cover: "Einar Mar Gudmundsson: Wie man ein Land in den Abgrund führt"© Hanser Verlag