Als Deutschlands Denker mit dem Ende der Teilung haderten

Von Rolf Schneider · 03.10.2011
Die einen trauerten der Bonner Republik hinterher, die anderen dem Sozialismus: Das Geschehen rund um die staatliche Wiedervereinigung war keine Sternstunde der deutschen Intellektuellen. Seitdem hält sich unsere Literatenzunft mit politischen Einlassungen zurück.
Im Jahr 1988 hielt der am Bodensee beheimatete Schriftsteller Martin Walser eine Rede über das eigene Land, in der er sich als ein leidenschaftlicher Anhänger der deutschen Wiedervereinigung bekannte. Seine Äußerung erregte beträchtliches Aufsehen. Bislang dem linksliberalen Lager zugerechnet, sah sich Walser plötzlich dem Verdacht ausgesetzt, ein konservativer Deutschnationaler zu sein, während seine früheren Gesinnungsgenossen nach wie vor die deutsche Zweistaatlichkeit vertraten.

Dass Walser keine zwei Jahre später Recht erhalten würde, war damals nicht abzusehen. Das Hadern mit der dann stürmisch vollzogenen Vereinigung sollte noch ziemlich lange währen. Ein 1990 von dem Journalisten Ulrich Wickert edierter Sammelband enthielt westdeutsche Beiträge, in denen, etwa durch den Romancier Patrick Süßkind, der Fortfall der gemütlichen Bonner Republik ausführlich beklagt wurde. Prominentester Skeptiker in der Sache blieb Günter Grass, der die deutsche Teilung als Strafe für Auschwitz begriff und in der Wiedervereinigung die Rückkehr eines deutschen Großmachtchauvinismus sah.

Mit der Strafe für Auschwitz hielten es noch andere. Dass sie dabei unhistorisch argumentierten, irritierte sie nicht; die deutsche Teilung war eindeutig das Resultat von Ost-West-Gegensatz und Kaltem Krieg. Auch in Ostdeutschland, vormals DDR, greinten Intellektuelle dem Ende der deutschen Teilung hinterdrein, da sie sich um die Chance gebracht sahen, zwischen Oder und Elbe den wahren Sozialismus, jenen demokratischen mit dem menschlichen Antlitz, endlich zu verwirklichen. Der gleichen Illusion hingen vor allem die sogenannten DDR-Bürgerrechtler an. Eben noch hatten sie das Ende der Honecker-Diktatur maßgeblich mitbefördert, jetzt standen sie abseits alles common sense und mussten das mit dem Verlust ihrer politischen Relevanz bezahlen.

Das Geschehen rund um die staatliche Wiedervereinigung der Deutschen war, von heute her besehen, keine Sternstunde der deutschen Intellektuellen. Wer die inzwischen vergangenen 22 Jahre besieht, wird sagen müssen, dass diese Schicht sich von der damaligen Irritation nie mehr wirklich erholt hat. Das gilt zumal für die Schriftsteller. Sicher, Günter Grass lässt sich immer mal wieder zu politischen Themen vernehmen, teils einsichtig, teils verquer, und Martin Walser konnte mit seiner Meinung, Auschwitz sei eine Moralkeule, vermutlich gegen seinen Willen viel öffentlichen Unmut erzeugen.

Insgesamt jedoch hielt und hält sich die deutsche Literatenzunft mit politischen Einlassungen zurück, je jünger die Autoren sind desto stärker. Wer die aktuellen belletristischen Erzeugnisse besieht, die für den Büchermarkt wie die fürs Theater, wird erkennen, dass ihr Hauptgegenstand private Beziehungsprobleme sind und sexuelle Nöte. Sollte einmal ein Name wie Afghanistan vorkommen, wird das zu Recht als außerordentlich empfunden.

Die Rolle des Schriftstellers als politischem Mahner haben wir einst aus Frankreich bezogen. Voltaire war ein Maßstab, Emile Zola ein anderer; auf dessen Engagement in der Dreyfus-Affäre geht auch der Begriff Intellektueller zurück. Frankreich kennt heute noch, wiewohl deutlich zurückgenommen, den politisch engagierten Autor, der auch gehört wird, man denke an Bernard-Henri Lévy oder André Glucksmann.

Hierzulande gibt es ihn kaum mehr. Allenfalls der gelegentliche Rückblick auf den untergegangenen Kommunismus, den in der DDR oder den in Rumänien, wird manchmal noch zum Thema. Muss man diese Situation beklagen? Marcel Reich-Ranicki hat gesagt, Politisches in der schönen Literatur bewirke zwar gar nichts, doch sei ästhetisch immer ein Zugewinn. Oder soll man die Sache als Hinweis nehmen, dass wir hierzulande unter vergleichsweise angenehmen politischen Bedingungen leben, sodass sie einen literarischen Widerspruch gar nicht erst provozieren? Wenn es sich derart verhielte, wäre dies an die gesamtdeutsche Wirklichkeit ein sehr großes Kompliment.