Als der Tod in die Idylle kam

15.07.2011
Die kleine Kokica wächst in Österreich an der slowenischen Grenze auf. Und sie hört immer mehr grausige Dinge aus der Zeit, als die Nazis in der Gegend wüteten. So wird der zunächst beschauliche Dorfroman, in den der Leser versinkt, zu einem Buch, das den Opfern eine Stimme gibt, und zu einem Pamphlet gegen die österreichisch-slowenische Geschichtsklitterung.
In der Speisekammer riecht es nach Geselchtem und frisch gebackenem Brot. Großmutter schöpft Schweineschmalz aus einem Topf und legt der Enkelin eine Handvoll Eier in den hoch gehaltenen Rock. Die Mutter eilt mit dem Weidenkorb auf die Tenne und in den Stall zu den Schweinen, der Vater treibt die Kühe ungeduldig zur Tränke.

Der "Dunstschleier aus Behaglichkeit", der die Erzählerin einhüllt, teilt sich auch dem Leser mit. Doch die ländliche Idylle in Maja Haderlaps "Engel des Vergessens" ist brüchig und wird bald beiseite geschoben von einer unbewältigten Vergangenheit voller Tod und Verderben. Das unverkennbar autobiographische Buch, aus dem die 1961 geborene Lyrikerin vor einer Woche in Klagenfurt las und mit dem sie den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, ist mehr als ein Roman.

Das Mädchen Kokica, Hühnchen, wächst an der Grenze zum jugoslawischen Slowenien auf. Beiläufig erwähnt die Großmutter, sie sei im Lager gewesen, und wenn sie mit den Nachbarn, allesamt österreichische Slowenen, verreist, dann werden entweder Marienwallfahrtsorte oder Konzentrationslager besucht.

Doch die Erzählerin ist jung, ihr ist Dachau nur ein "klingender Name". Dann stirbt das Kind beinahe beim Schwimmen, die Großmutter erzählt ihr von der Haft im KZ Ravensbrück, und der Vater droht, überfallen von Erinnerungen an seine Partisanenzeit, die Familie und sich umzubringen.

Der Tod hält Einzug in die Idylle, und Kokica wird die geliebte Umgebung, besonders der Wald fremd. In ihn waren die Slowenischstämmigen geflüchtet, wenn die Nazi-Schergen und ihre Helfershelfer, die österreichischen Polizisten, auf der Suche nach Titos Partisanen ganze Familien folterten, verhafteten oder gleich ermordeten. Immer grausigere Geschichten hört das Kind, dessen Vater als Zwölfjähriger drei Scheinexekutionen durchstand und seinen bei den Partisanen kämpfenden Vater dennoch nicht verriet.

In einem "historischen Schlund" des Vergessens scheinen all diese Geschichten untergegangen zu sein. Um ihn kreist die junge Frau. Während der jugoslawischen Kriege will sie nicht mehr durchs Gedichte schreiben zu seelischer Gesundheit gelangen, sondern indem sie die in Stücke zerfallenen Geschichten miteinander und mit den eigenen Schreckensbildern verbindet.

Das Ergebnis ist "Engel des Vergessens" – der Roman, der den Slowenen historische Gerechtigkeit in einem sie tot schweigenden und diskrimierenden Österreich verschaffen will und darüber zu einer atemlosen, grauenerregenden Schilderung der Folter und Morde, der Kämpfe und Opfer vor und nach 1945 wird. Der Dorfroman wird zur Geschichtsschreibung der Opfer.

Maja Haderlap zieht in ihrem auf Deutsch verfassten Buch gegen die Geschichtsklitterung zu Felde, nach der die deutschsprachigen Österreicher unter den Nazis nur ihre Pflicht getan, die slowenischspachigen diese jedoch an die kommunistischen Partisanen verraten hätten.

Ihr Buch besitzt das Pathos des Opfers. Ob die Klage historisch richtig ist oder nicht – das Buch nötigt großen Respekt ab. Denn es macht die nicht vergangene Gewalt spürbar, die die Erzählformen – den Dorf-, den Familien-, den Bildungsroman der Autorin – nacheinander zerschlägt.

Besprochen von Jörg Plath

Maja Haderlap: Engel des Vergessens
Wallstein Verlag, Göttingen 2011
287 Seiten, 18,90 Euro