"Alltagswissen" als Schulfach

Frau Wanka stoppt den Verblödungstrend

Zehntklässler telefonieren am 22.04.2013 auf einem Schulhof in Braunschweig (Niedersachsen), nachdem sie für eine Woche freiwillig auf ihr Handy verzichtet hatten.
Ohne Smartphone geht heute gar nichts mehr - oder? © dpa / picture alliance / Sebastian Kahnert
Ein Glosse von Klaus Pokatzky · 07.06.2015
Redakteur Klaus Pokatzky fürchtet, dass Jugendliche vor lauter Digitalisierung den Bezug zur Realität verlieren - und begrüßt deshalb den Vorschlag von Bildungsministerin Johanna Wanka ein Schulfach in "Alltagswissen" einzuführen.
Mal eine Frage: Wie haben Sie zuletzt Ihren Brief geschrieben, an einen der 7.251.520.805 Menschen, die gerade auf der Welt leben? Mit dem Füllfederhalter, mit der Schreibmaschine oder mit Ihrem Computer? Für die Jüngeren unter den Hörern sei gesagt: Eine Schreibmaschine war ungefähr doppelt so breit und zehn Mal so hoch wie ein iPad und ein Gerät mit Tasten für jeden Buchstaben und jede Zahl und jedes Satzzeichen, auf das ich vor 30 Jahren diese Sätze gehackt hätte. Krass, oder?
Und noch eine Frage an meine Altersgenossinnen und Genossen: Wie viele Telefonnummern können Sie noch auswendig – wo wir keine Telefonapparate mehr mit Wählscheibe haben, sondern nur die Rückruftaste drücken, wenn uns jemand angerufen hat; und von neuen Bekannten uns sofort deren Nummer auf unser Handy schicken lassen, die abspeichern und dann nur noch einmal auf den Namen drücken, wenn wir den anrufen wollen?
Was eine Wählscheibe war, können Sie jetzt Ihren Kindern und Enkeln erklären. Kochen Sie noch oder überlassen Sie das Ihrer Mikrowelle? Spülen Sie noch das schmutzige Geschirr oder macht das Ihre Spülmaschine?
Schöne neue Digitalwelt
Ihre Enkel aber werden eines Tages in Ihrem Haushalt Computer und Roboter haben, die beim Betreten der Wohnung die Mikrowelle anwerfen, das Badewasser einlassen und schon mal die Spülmaschine programmieren. Das wird die schöne neue Digitalwelt sein. Aber was passiert, wenn der Strom mal ausfällt und aus irgendeinem Grund der Akku vom Roboter nicht geladen ist? Dann kriegen Ihre Enkel kein warmes Essen mehr, waschen sich nicht und tragen Ihre Schmutzwäsche tagelang. Wollen wir das?
Johanna Wanka und ich wollen das nicht. Johanna Wanka ist eine kluge Frau. Und ungemein sympathisch. Für eine Angehörige der politischen Spitzenklasse ist sie von einer verblüffenden Normalität und allersympathischsten Naivität. So wünsche ich mir unsere Politiker.
Mathematikerin ist sie auch noch und hat zwei Kinder ins Erwachsenenalter gebracht. Wenn Johanna Wanka einkaufen geht, dann stolpern ihr auf der Straße Kinder und Jugendliche entgegen, die glauben, der liebe Gott hätte den Menschen so konstruiert, dass er gleichzeitig mit zwei Beinen laufen kann, mit beiden Händen SMS tippen, mit einem Auge gucken, wohin ihn die Beine tragen, mit dem anderen SMS lesen, mit einem Ohr Musik vom MP3-Player hören und mit dem anderen einem Handytelefonat lauschen. Hat der liebe Gott aber nicht.
Fach "Alltagswissen" ist eine gute Idee!
Das Ganze würde auch nur dann funktionieren, wenn der durch die Gegend stolpernde, SMS gleichzeitig schickende und lesende, zugleich Musik hörende und telefonierende junge Mensch ganz allein auf der Welt wäre. Ist er aber nicht. Er teilt sie sich jetzt gerade schon mit 7.251.523.487 Menschen. Und wäre er allein auf der Welt, mit wem sollte er dann auch telefonieren? Der liebe Gott hat sich also schon was gedacht. Und Johanna Wanka auch.
Deshalb ist ihre Idee für ein Fach "Alltagswissen" genau richtig, damit die jungen Menschen mal eine Suppe auf dem Herd kochen und den Kochtopf anschließend mit den eigenen Händen waschen, ohne dabei zu telefonieren oder SMS zu tippen; damit sie die Glühbirne am Schreibtisch oder die Zündkerze am Motorroller wechseln – ja vielleicht sogar den Fahrradreifen flicken und ihre Computertastatur mal abwischen. Obwohl das dann schon hammermäßig heavywär. Voll krass – oder?
Ich würde mir dann noch ein zusätzliches Schulpflichtfach wünschen: Medienkunde. Da lernen die jungen Menschen dann, wie sie im Internet sauber und seriös recherchieren; da lernen sie, worin sich etwa die Homepage des Bundesbildungsministeriums, auf der das "Bild am Sonntag"-Interview von Johanna Wanke nachzulesen ist, und die Homepage des Deutschlandradio Kultur, wo diese in den Computer gehackten Zeilen nachgehört und nachgelesen werden können, unterscheiden von dem Internetauftritt eines Verschwörungsvereins, der glaubt, dass die Welt mit ihren inzwischen 7.251.524.712 Menschen in Wirklichkeit von außerirdischen Reptilien beherrscht wird. Und wo sie lernen, in den asozialen Netzwerken mit ihren Veröffentlichungen über ihre Mitschüler verantwortungsbewusst umzugehen.
Unendlich viele Menschen wären dann froh. Johanna Wanka und ich – und 7.251.525.868 weitere.
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