Alltagsbeobachtungen in Italien

Rezensiert von Adelheid Wedel · 26.08.2005
Es ist das Verdienst des Verlegers Klaus Wagenbach, Goffredo Parise für den deutschsprachigen Raum entdeckt zu haben. 1997 erschien das Parise-Alphabet bei Klaus Wagenbach, nun liegt es in Ausschnitten als Hörbuch vor. Die dafür ausgewählten fünf Texte liest der Schauspieler Peter Fitz. Sie erzählen Alltagsbeobachtungen über Menschen in Italien heute.
"An einem Tag im September, in einer Luft, die nach Kühen und Wein roch, heirateten zwei Italiener namens Maria und Giovanni in einer romanischen Kirche, die schon von kühler Luft erfüllt war, mit Resten hoher Fresken an den Ziegelmauern. (Sie stellten den Dichter Dante dar, wie er ganz klein vor einem riesigen stark abgebröckelten Papst kniete, der auf einem Thron saß.)"

Parises Kunst der knappen treffenden Beschreibung begegnet uns in allen fünf Episoden des Hörbuchs "Alphabet der Gefühle". Ausgewählt aus der gleichnamigen Geschichtensammlung laden sie den Hörer ein, sehr verschiedene Lebenssituationen von Italienern heute kennen zu lernen. Jenseits touristischer Italienromantik kommen uns Parises Figuren ganz nah, ihr Schicksal, ihre Wunderlichkeit, die Art, in der sie sich mit dem Leben arrangieren. Parises zärtlicher Blick hebt den Einzelnen aus seiner von ihm selbst wahrgenommenen Bedeutungslosigkeit heraus, macht jedes Leben, auch in seiner Banalität, zu etwas Besonderem. Schon der unerwartete Inhalt der Geschichten, anders als es die Überschriften suggerieren, weckt unsere Aufmerksamkeit. Eine zum Beispiel heißt "Belleza", die Schönheit: Aber weder Jugend noch Mode werden hier gefeiert. Stattdessen lernen wir einen alten Mann kennen:

"Er hatte wenig anzuziehen. Eine Hose aus blauem Leinen, ein wollenes Unterhemd, ein kariertes Hemd und Schuhe aus Leinen und Bast für den Sommer. Eine Hose aus Militärwolle, einen dicken Pullover und die Jacke eines Grundbesitzers, der im Jahre 1940 gestorben war."

Die Schönheit dieses Mannes steckt nicht in Äußerlichkeiten. Sie liegt in der Balance, die sein Leben gefunden hat, in der er glückliche Momente genießt:
"Er hatte nie gerne gejagt oder geangelt. (Zwar kannte er alle Tiere der Gegend und ihre Lebensgewohnheiten. Aber er sah sie lieber lebendig.) Oft näherte er sich ganz langsam den Fasanen, dann blies er seine Backen auf und ließ die Luft wieder ab und stampfte mit den Füßen auf den Boden. Dabei hob sich der lange schwarze Schnurrbart in die Höhe. Die Fasanen flogen erschrocken davon mit ihrem in den langen grünen Hälsen erstickten Schrei, und der Alte lachte."

Parise beschreibt diesen Mann in seinem Alltag, bei der Pflege der Weinstöcke und den Arbeiten in Haus und Hof. Wir erfahren auch, dass er häufig an seinen Tod denkt, ohne jeden Schrecken. Hört man diese Passagen, so vermitteln auch sie den Gedanken an Schönheit. Es sind Momente des Innehaltens, vom Sprecher, dem Schauspieler Peter Fitz, in ruhigem Ton erzählt, ohne jede Aufregung. Das Einverständnis mit der Vergänglichkeit des Lebens prägt sich beim Hören ein – eine Haltung, die auch die anderen Geschichten in sich tragen. Am ergreifendsten anzuhören in "Italia", einer über das Miteinanderleben zweier Menschen von der ersten Verliebtheit bis zu ihrem Tod:

"Nun waren sie schon nicht mehr jung. (Aber ihre Haut, Fleisch, Speichel und Haare waren noch jung genug. Giovanni war im Gesicht älter geworden, hatte graue Haare, Säcke unter den Augen und zwei strenge Falten an den Seiten seiner kleinen kindhaften Nase.) Maria hatte nicht zugenommen, aber auch sie hatte einige graue Haare, und Brüste und Fleisch waren wirklich nicht mehr wie einst. Ihre Festigkeit war dahin. Giovanni, der sie seit seinen Jugendzeiten in Scherz und Ernst ständig anfasste, hörte aus Rücksichtnahme damit auf. Maria verstand diese Rücksichtnahme, aber dies zu begreifen war etwas Dunkles."

Völlig im Gegensatz zu dieser gewachsenen Zweisamkeit erleben wir in der Geschichte Nr. 5 ein Paar. Sie ist überschrieben mit "Sesso", Sex. Peter Fitz macht mit seiner Stimme deutlich, wem seine Sympathie gilt. Die Art, in der er den Jungen fragen lässt, stimmt auf kommendes Unheil ein:

"Auf der Gasse sah sie ein paar Jungen und einer mit einer Fülle lockiger Haare, Turnschuhe und einer schwarzen Lederjacke, einer von vielen, die da herumliefen, näherte sich ihr und sagte: Du bist sympathisch. Wie heißt du. Ich möchte dich wiedersehen."

Die Frau, die - wie weiter erzählt wird - in die Falle des Jungen und in sexuelle Abhängigkeit gerät, wird mit Sympathie und ein wenig Wehmut beschrieben. Peter Fitz spricht als wolle er die Frau in Schutz nehmen, seine Stimme wird weich. Sie gibt der Frau die Bewunderung, die ihr in der Geschichte versagt bleibt:

"Sie war keine schöne Frau, aber sie hatte sich eine kindliche Art bewahrt sich zu bewegen und noch viel kindlicher, die Gewohnheit, mit einer Hand ihr lockiges Haar zu zerzausen."

Die wunderbaren Geschichten von Besonderem und Banalem, eng verwoben im Alltag, schärfen auch beim Zuhörer die Sinne für alltägliche Überraschungen.
Peter Fitz, ein Mann aus der Generation des Dichters, präsentiert die Episoden größtenteils abgeklärt, desillusioniert, aber immer auch mit einem Rest Staunen, das er an die Hörer weitergibt. Dieses Staunen gilt der Kunst Parises, menschliches Fühlen aus der Verschwiegenheit hervorzulocken. Dabei setzen uns Dichter und Schauspieler einem Wechselbad der Gefühle aus, denn die pointiert erzählten stories fordern entweder Sympathie oder Antipathie heraus. Die knapp gewählten Überschriften der Kapitel: Schönheit, Herz, Einfalt, Sex, Italia verraten zunächst wenig von ihrem Inhalt – sie zu hören kommt jedoch einer Entdeckungsreise in den Kosmos menschlicher Gefühle gleich.

Goffredo Parise: "Alphabet der Gefühle", gelesen von Peter Fitz,
nach dem gleichnamigen Roman, aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim und Dirk J. Blask
1 CD, 69,17 Minuten mit 5 Tracks, Preis 16,-€.