Alltag in Griechenland

"Unsicherheit, Angst und Trauer"

Demonstranten halten einen Banner während ihres Protestes in Athen.
Viele griechische Bürger sind zutiefst verunsichert - deshalb kommt es immer wieder zu Protesten auf Athens Straßen. © ANDREAS SOLARO / AFP
Margarita Tsomou im Gespräch mit Dieter Kassel · 10.08.2015
Neue Hilfspakete können nichts an der sich ausbreitenden depressiven Stimmung in Griechenland ändern. In der Bevölkerung herrsche große Hoffnungslosigkeit, sagt die Journalistin Margarita Tsomou. Die Kulturszene kämpfe ums Überleben – während ausländische Künstler Athen zum neuen Hotspot erklärten.
Die deutsch-griechische Performerin und Journalistin Margarita Tsomou beobachtet bei den Griechen derzeit "Unsicherheit, Angst und Trauer im Alltag". Vor dem Hintergrund der anhaltenden Krise sagte die Herausgeberin des „Missy Magazine" im Deutschlandradio Kultur, derzeit herrsche der komplette Ausnahmezustand:
"Wir wissen, vor allem in den unteren Schichten ist die Situation katastrophal. (...) 300.000 Haushalte haben keinen Strom, ein Drittel hat keine Krankenversicherung, weil die Arbeitslosigkeit so hoch ist."
Nach wiederholten Hilfspaketen herrsche nun eine große Hoffnungslosigkeit in der Bevölkerung – die Selbstmordrate sei um 30 Prozent gestiegen. Es gebe keine Planbarkeit für die meisten Griechen.
Was wird aus der Kulturszene?
Auch die Kulturszene kämpft ums Überleben. Margarita Tsomou nennt als Beispiel das renommierte Athener Theaterfestival. Das sei bislang durch die Ticketerlöse des öffentlichen Nahverkehrs finanziert worden. Nun habe der Staat der Bevölkerung jedoch angeboten, die Verkehrsmittel umsonst zu nutzen. "Dadurch sind die Ticketerlöse nicht in die Kasse des Staates gekommen. Und dadurch hat jetzt das große Theaterfestival kein Geld, um meine Freunde und Theatermacher zu bezahlen", bedauert Margarita Tsomou.
Es gebe jedoch auch eine Gegenbewegung: Für Künstler aus aller Welt sei Griechenland gerade wegen der Krise "eines der interessantesten Länder der Welt". Alle Arten von Kulturschaffenden zögen nach Athen, um inspirieren zu lassen. Sie erklären die griechische Haupstadt kurzerhand zum Hotspot - "weil sie es dort so spannend finden und dort eine Art von neuer Epoche anfängt".
Und was den Euro anbelange, so sei dieser längst nicht mehr attraktiv für die Griechen, sagte Tsomou. "Denn der Euro-Rahmen bedeutet eine neo-liberale Austeritätspolitik." Und die wolle niemand. Zugleich herrsche aber große Unsicherheit darüber, welche Folgen ein Grexit haben würde.

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Über das Ausmaß der Berichterstattung über Griechenland, über die griechische Schuldenkrise in deutschen Medien, kann man sich eigentlich nicht beschweren - fast jede Talkshow macht das immer wieder zum Thema, Zeitungen, das Internet und auch das Radio sind voll davon, aber weiß man, wenn man all das hört, liest und sieht, wirklich, was in Griechenland los ist. Das wollen wir jetzt Margarita Tsomou fragen. Sie lebt in Berlin, gibt unter anderem das "Missy Magazine" heraus, ist also Publizistin, Performerin und hat gerade erst am Freitag und Samstag in Hamburg auf Kampnagel eine Veranstaltung organisiert, in der es Diskussionen, Vorträge und auch griechische Filme gab, und das Ganze stand unter dem Motto "This is not Greece", das ist nicht Griechenland. Schönen guten Morgen, Frau Tsomou!
Margarita Tsomou: Guten Morgen, hallo!
Kassel: Man sollte glauben, man weiß es, wenn man all das sieht im deutschen Fernsehen, ich bin mir aber nicht so sicher, deshalb frage ich Sie das: Wie erleben denn die Menschen in Griechenland diese Krise?
Tsomou: Es ist schwierig zu vermitteln in Deutschland, das habe ich mir zur Aufgabe gemacht in letzter Zeit - sie kennen ... (Störung)
Kassel: Frau Tsomou, ich muss Sie ganz kurz schon unterbrechen. Wir hatten gerade ein extrem lautes Knarzen im Telefon. Vielleicht haben Sie Wackelkontakt im Kabel, so Sie ein Kabel haben.
Tsomou: Ich habe gar kein Kabel.
Kassel: Okay, nicht den Kopf bewegen - darum muss ich Sie jetzt leider bitten schon am frühen Morgen und bitte, noch mal anzufangen! Sie haben gesagt, es ist schwer zu vermitteln in Deutschland.
Tsomou: Nicht den Kopf bewegen? Wann haben Sie denn das Knarzen?
Kassel: Jetzt ist es wieder weg. Vorhin hatten wir es gerade, jetzt klingt alles wunderbar. Lassen Sie uns zurückkommen auf die Frage. Sie haben gerade - das haben wir noch verstanden - gesagt, es sei alles sehr schwer zu vermitteln.
Tsomou: Gut, ich sage es noch mal oder Sie können es ja scheiden. Es ist alles schwer zu vermitteln. Sie kennen die Verelendungsgeschichten vor allem in Zahlen, bin mir aber nicht sicher, ob man das auch dann nachvollziehen kann. Wir wissen vor allem in den unteren Schichten ist die Situation katastrophal, das heißt zum Beispiel, dass Leute keinen Strom haben – 300.000 Haushalte haben keinen Strom –, oder ein Drittel der Griechen haben keine Krankenversicherung, weil die Arbeitslosigkeit so hoch ist.
Was jetzt nun passiert ist nach dem "Ochi"-Referendum, nach dem "Nein"-Referendum und der Tatsache, dass nun doch genau das Gleiche noch mal zum dritten Mal gemacht wird in Griechenland, zum dritten Mal Hilfspakete, ist, dass eine Hoffnungslosigkeit dazu gekommen ist. Also man hat das Gefühl, Thatcher hat recht als sie gesagt hat, "there's no alternative" – TINA –, egal, was man macht, egal wie man wählt, man wird Austerität kriegen in Europa, und es fühlt sich an wie so eine Art Sackgasse, eine Hoffnungslosigkeit.
Kassel: Wie wirkt sich das denn auch psychologisch aus, dieses Gefühl, das sich ja nicht nur auf den Status Quo bezieht, sondern man muss ja in Griechenland auch das Gefühl haben, das hat alles kein Ende.
Margarita Tsomou, Herausgeberin des "Missy Magazins"
Margarita Tsomou spricht über die depressive Stimmung im griechischen Alltag.© imago / Müller-Stauffenberg
Tsomou: Nun, die Zahl heißt da, Selbstmordrate um 30 Prozent gestiegen – das ist die Zahl für die Depression, die stattfindet, und es ist natürlich so – ich war jetzt im Juli viel da –, es liegt eine große Unsicherheit, Angst und auch Trauer über dem Alltag, also wir alle schlafen wenig. Im Juli haben alle Leute wenig geschlafen, vor allem, weil es keinen Morgen gibt, es gibt keine Planbarkeit. Das heißt, Freunde von mir wissen überhaupt nicht, was sie als nächstes machen werden, weil wenn der Sommer zu Ende ist – der Sommer ist einfach nur, es ist warm und man kann sich draußen aufhalten, man weiß nicht, was als nächstes ist. Das heißt, kompletter Ausnahmezustand, wenig Ruhe.
"Der Euro ist für immer mehr Leute nicht mehr attraktiv"
Kassel: Dieser Ausnahmezustand, was bedeutet der auch für die Kulturszene in Griechenland? Findet da überhaupt noch was statt? Ich meine, die Leute haben für ganz andere Dinge kein Geld, die haben wahrscheinlich auch kein Geld für Eintrittskarten und ähnliches.
Tsomou: Auf der einen Seite ja. Also es finden absurde Sachen statt, wie zum Beispiel, dass das Athener Festival, das größte Theaterfestival in Griechenland wird finanziert durch die Tickets der öffentlich-rechtlichen Verkehrsmittel, und die wurden ja jetzt, weil es die Capital Controls und es überhaupt kein Geld gibt, hat der Staat angeboten, dass man umsonst fahren kann. Dadurch sind die Tickets nicht in die Kasse des Staates gekommen, und dadurch hat jetzt das Athener große Theaterfestival kein Geld, um meine Freunde und Theatermacher zu bezahlen für ihre Stücke.
Also es sieht auch so aus der Ausnahmezustand, aber man muss sagen – und das haben wir jetzt auf der Konferenz am Wochenende, die ich gemacht habe, wir kommen jetzt gleich noch mal drauf zu sprechen, auch festgestellt –, es gibt da auch eine Gegenbewegung. Im Moment ist es so, dass für Kunst und Kultur Griechenland das interessanteste Land, zum interessantesten Land der Welt geworden ist – wir wissen, die "documenta" findet auch dort statt. Im Moment, Künstler, Kuratoren, Architekten, alle möglichen Kulturschaffenden ziehen nach Athen, weil sie es dort so spannend finden, weil dort auf eine Art eine neue Epoche anfängt, und es gibt eine Art Gegenbewegung. Man könnte sagen, Griechenland ist the land of opportunity für Künstler und Kultur.
Kassel: Aber für die anderen Menschen – wie sehen die eigentlich noch ihre Zukunft? Ich unterstelle mal, die erwarten doch wahrscheinlich weder aus Athen, noch aus Brüssel noch so richtig viel. Macht sich da nicht auch langsam der Gedanke breit, dieser sich hinziehende Non-Exit sei vielleicht doch schlimmer als ein Grexit?
Tsomou: Genau, es macht sich langsam der Gedanke breit, die Diskussionen sind groß. Es ist auch nicht mehr so, dass man den Grexit vor dem Hintergrund, was der Non-Exit bedeutet, als die schlimmste Alternative sieht, aber man kann überhaupt nicht sagen, was ein Grexit machen und bedeuten würde, weil wir ja die Märkte nicht kontrollieren. Also die Märkte entscheiden ja wie nach Affekt und nach ihren eigenen Angst- und Gefühlszuständen. Das heißt, die zwei Fragen, die vor allem diskutiert werden, sind a, wie findet ein Grexit, wenn ein Grexit stattfindet, statt – das heißt, wird dabei zum Beispiel, gibt es dabei einen Schuldenschnitt, gibt es dabei die Möglichkeit, die eigenen Banken zu nationalisieren und trotzdem mit der Europäischen Zentralbank zusammenzuarbeiten, das heißt, bleibt man in der EU, auch wenn man nicht im Euro bleibt. Das sind entscheidende Fragen, die entscheiden, ob der Grexit besser ist oder nicht.
Und das Zweite ist natürlich, ja, der Euro ist für immer mehr Leute nicht mehr attraktiv, weil er bedeutet, wie man sieht, der Euro-Rahmen bedeutet neoliberale Austeritätspolitik, und die Tatsache, dass man als Staat keine demokratisch-parlamentarische souveräne Möglichkeit hat, Politik zu machen. Und das ist natürlich auch eine epochale Veränderung zu sehen, dass eine Währung so viel, und dass die Wirtschaft so viel Einfluss haben kann auf unser politisches und alltägliches Leben. Daher, ja, wir diskutieren darüber, wir werden sehen, was passiert.
Kassel: Die Publizistin Margarita Tsomou über die Lage in Griechenland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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