Allmächtige Parteien

Rezensiert von Konrad Adam · 13.09.2009
Welche Aufgaben gesteht das Grundgesetz den Parteien eigentlich zu? Wie viel Macht sollen sie haben und wie viel Macht nehmen sie sich? Eine Aufsatzsammlung aus vier Jahrzehnten gibt Aufschluss.
Die Parteien haben das anders verstanden, anders verstehen wollen; und waren dabei überaus erfolgreich. Sie haben dem harmlos klingenden Zeitwort die Aufforderung entnommen, sich zu Herren des gesamten Staatsapparates aufzuwerfen; und nicht nur des Staates einschließlich der Verwaltung, der Beamtenschaft und des öffentlichen Dienstes, sondern des täglichen Lebens überhaupt bis in seine letzten, privat genannten Schlupfwinkel. Mittlerweile dringt der Parteibetrieb, wie es der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker einmal gesagt hat, durch alle Ritzen der Gesellschaft; es ist schwierig, wo nicht sogar unmöglich, Gerichtspräsident, Rundfunkintendant, Schulrat oder Sparkassendirektor zu werden, ohne dass die Parteien bei solchen und ähnlichen Vorgängen ein Wort mitsprechen - meist das entscheidende.

Einer der hartnäckigsten Kritiker dieser Selbstermächtigungspolitik war und ist der Freiburger Politologe Wilhelm Hennis. Die Aufsätze, mit denen er die fatale Entwicklung über die Jahre hin begleitet hat, sind unter dem Titel "Auf dem Weg in den Parteienstaat" bei Reclam erschienen und bis heute, ja heute sogar erst recht eine erhellende Lektüre. Der erste Satz in dieser Sammlung lautet:

"Die politischen Parteien waren bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts noch eine Randerscheinung des politischen Lebens. Heute bestimmen sie in fast allen Staaten der Welt die Formen und Inhalte der politischen Willensbildung."

Das Heute, von dem der Aufsatz hier spricht, liegt etliche Jahrzehnte zurück; der Text erschien im Jahre 1969. Was würde, was müsste Hennis heute wohl sagen, nachdem sich die Parteien 40 Jahre lang damit beschäftigt haben, ihre ohnehin schon starke Machtstellung noch weiter zu befestigen?

Tatsächlich haben die Parteien, gestützt auf eine höchst einseitige Auslegung des von ihnen sogenannten Parteienprivilegs, die Macht in allen ihren ursprünglich einmal getrennten Parzellen an sich gebracht und dergestalt eine der wichtigsten Vorkehrungen gegen den Machtmissbrach, die Teilung der Gewalten, außer Kraft gesetzt. Wohin man sich auch wendet, an die Regierung, an die Gerichte oder an das Parlament: Die Parteien sind immer schon zur Stelle und sorgen dafür, das nichts gegen ihren Willen geschieht. Am folgenreichsten haben sie die Parlamentsarbeit entstellt, indem sie den Abgeordneten zu einen mehr oder weniger gehorsamen Parteisoldaten degradiert haben, der seinem Gewissen nur dann folgen darf, wenn es die Fraktionsführung erlaubt. Als eine Maschine, spezialisiert auf die Eroberung und Verteidigung der Macht, arbeitet die Partei genauso, wie Hennis sie beschreibt:

"Sie lässt sich vor jedes Ziel spannen, jeden Inhalt kann man in sie hineintun. Parteien können ein kostbares Besitztum der politischen Freiheit sein, sie können genauso das Werkzeug erbarmungsloser Tyrannei abgeben."

Es gibt auch noch ein Drittes, das mittlerweile sogar als Regel gelten darf: den sanften Terror, der nicht zwingt, sondern lockt, der das Volk statt mit Verbot und Strafe mit Abwrackprämien und Sonderangeboten, Beitragsermäßigungen und Steuersparmodellen an die Leine nimmt. Dieser moderne, sozialpolitisch weichgespülte Terror verspricht den Leuten ein Leben mit wenig Arbeit und üppigen Renten - vorausgesetzt, sie geben sich mit Lohn und Alterslohn zufrieden und halten ansonsten Ruhe. Nicht der mündige, sondern der satte, der träge, der selbstgefällige Bürger, der Bürger in seiner Doppelrolle als Produzent und Konsument, ist das Ideal der Parteien. Alle vier Jahre brauchen sie ihn als Wähler, als aktives Mitglied aber nur dann, wenn er dazu bereit ist, beim Spiel um die Macht nach ihren Regeln mitzutun. Hennis zitiert aus den einschlägigen Bestimmungen und folgert sarkastisch:

"Wer das liest, der sieht im Geiste eine etwas dusselige Bevölkerung, die von ihren im ständigen Einsatz befindlichen Hinführern auf den Pfad der politischen Bildung und Tugend gebracht wird. Das politische Deutschland - eine ewige pädagogische Provinz."

Von einer lebendigen Verbindung zwischen unten und oben, zwischen dem Volk und den Staatsorganen kann im Ernst keine Rede sein. Die Parteien haben den Sitz der Macht mit ihren Truppen umstellt, sie bewachen die Zugänge und lassen nur solche Leute passieren, die die Parole kennen und routiniert nachsprechen. Quereinsteiger wie Paul Kirchhof, die vom Klüngel wenig, dafür aber umso mehr von der Sache verstehen, stören nur und werden weggebissen, zuerst von den Freunden in der eigenen, danach von den Gegnern in den anderen Parteien. Das Ergebnis ist eine politische Klasse, die den Ansprüchen, die an sie gestellt werden müssen, nicht mehr gerecht wird.

Wilhelm Hennis: Auf dem Weg in den Parteienstaat
Reclam
Wilhelm Hennis: Auf dem Weg in den Parteienstaat
Wilhelm Hennis: Auf dem Weg in den Parteienstaat© Reclam