Alles abgedealt

Von Hartmut Krug · 10.03.2010
Die Szene ist ein verfallenes Viertel am Rande einer Großstadt mit einem verwaisten Hangar am Hafen: in diese Randzone der Zivilisation, nur bevölkert von illegalen Einwanderern und kleinen Gaunern, lässt sich ein kriminell gescheiterter Banker von seiner Sekretärin in seinem Jaguar chauffieren, hier will er Selbstmord begehen. Doch all die hier gestrandeten Verlierer und Heimatlosen, die keine wahren Gefühle, sondern nur mehr den Wunsch nach Geld und Wohlstand haben, richten ihre Hoffnung auf ein Geschäft mit dem reichen Bankier.
Bernard-Marie Koltès steigt hinab in die Abgründe einer kaputten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, in der alles, auch Gefühle und Haltungen, nur mehr als Ware erscheinen und zeigt alle Begegnungen und Beziehungen als bestimmt vom Handeln, Tauschen und Geschäftemachen.

Der Bankier handelt um den Zugang zum Fluss, um sich hineinstürzen zu können, seine Sekretärin bemüht sich um den Autoschlüssel, um wieder fortzukommen, und all die anderen dealen um Tod, Leben, Liebe und Geld. "Quai West" wurde Ende der Achtziger Jahre, als Koltès viel gespielt wurde, vor allem als platt kapitalismuskritisches Stück gesehen. Heute, wo es zuerst im Februar von Andrea Breth für das Wiener Burgtheater und jetzt von Werner Schroeter für die Berliner Volksbühne entdeckt wurde, wirkt es zeitlos und muss nicht aktualisiert werden, weil es ganz allgemein von einer gesellschaftlichen Leere handelt, in der es keine Hoffnungen und Utopien mehr gibt.

In der Volksbühne erzählt eine offene Spielfläche ohne jeden szenischen Realismus von dieser Leere. Die Darsteller steigen auf eine mächtige, bewegliche Scheibe, begrenzt von einem schmalen Wasserbassin, und setzen sich an den Rand. Diese Nachtgestalten vom Rand der Gesellschaft sind immer präsent, sie beobachten und belauern sich durch ihre schiere Präsenz, und wer in den Kampf der Dialoge eingreift, steht auf und tritt hinein ins Spiel. Die Spielfläche, mal erdig, mal umwölkt, mal eingedunkelt oder gleißend ausgeleuchtet, ist ein Präsentierteller, der sich hebt, senkt und dreht, der die Menschen in Bewegung setzt und sie doch nicht von der Stelle kommen lässt.

Dröhnende Töne wehen von fern herbei, und Musikfetzen und Walgesänge unterstützen die atmosphärische Kraft einer Bühne, mit der sofort klar wird: Hier geht es nicht um eine Aktualisierung und genaue gesellschaftliche Situierung des Stückes, nicht um Globalisierung und Börsencrash, nicht um platte Kapitalismuskritik, sondern um die Darstellung einer allgemeinen Leere in einer Gesellschaft ohne innere Utopien.

Schon bei Koltès spielt die Geschichte vom kriminell gescheiterten Bankier, der sich in seinem Jaguar von seiner Sekretärin in eine nur von kleinen Gaunern und illegalen Einwanderern bevölkerte Randzone der Zivilisation chauffieren lässt, um hier Selbstmord zu begehen, weniger in einem gesellschaftlichen als in einem existentiellen Denkraum. Und der Bankier (Peter Kremer) spielt letztlich keine große Rolle, sondern ist nur Katalysator für Handlungen und Haltungen von Menschen, die sich als Bedeutungsschatten vor einer "Mauer aus Dunkelheit" auf glitschigem Grund begegnen.

Wenn die Sekretärin (Pascale Schiller) als Erste in die Mitte dieses existentiellen Präsentiertellers stöckelt und ihren Ärger, hierher gelangt zu sein, ins Leere und hinab ins Publikum feuert, dann vermag sie sich kaum auf den Beinen zu halten. Festen Grund wird sie hier nie bekommen.

Die Männer, die dann auf- und abtreten, ruhen dagegen fest in sich und auf den Beinen. Toks Körner stellt den wortlosen Abad in zurückhaltender Eindringlichkeit einfach nur hin, während Uwe Preuss seinen Charles, den Bruder von Claire, aus dessen Texten heraus in eine ruhige Umtriebigkeit führt. Die junge Claire, die vom beweglichen Fak (Christoph Letkowski), dem Sohn einer Emigrantenfamilie, bedrängt wird, ist ebenfalls immer in Bewegung. Maria Kwiatkowsky zappelt und trippelt unentwegt virtuos auf der Stelle. Kein Zufall, dass sie in ihrem roten Kleid die einzige Farbe in die Düsternis bringt.

Regisseur Werner Schroeter schafft es, die Arienstruktur dieses aus vielen gegeneinander gesetzten Monologen bestehenden Stückes, in dem Koltès jeden am anderen vorbei antworten lässt, so lebendig wie längere Zeit auch unterhaltsam werden zu lassen. Schon lange nicht mehr hat man an der Volksbühne erlebt, dass Texte so klar durchleuchtet und konzentriert aus der Sprache heraus versinnlicht wurden. Bei Schroeter erleben wir zwei Stunden Sprechtheater, so anstrengend wie partiell anregend, so spannend wie aber auch immer wieder in lange Spannungslöcher fallend.

Vor allem aber: Koltès, der Ende der achtziger Jahre viel und vor allem streng ernsthaft poetisierend gespielt wurde (in Berlin 1992 schon einmal an der Volksbühne, und 1994 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters), bleibt nicht der von Heiner Müller geheiligte Bühnenpoet der tieferen Bedeutungen, sondern wird als Autor kenntlich, der seinen ernsten Figuren auch Komik eingeschrieben hat.

Wenn Claire und Fak in einem ellenlangen und sophistisch redundanten Dialogkampf darum kämpfen, ob er darf und ob sie will, wo sie noch niemals hatte, also gar kein Erfahrungsargument besitze, um ihre Weigerung zu begründen, dann nervt das Uferlose des Dialoges bei der Lektüre ungemein. Doch Schroeter überführt die Situation wunderbar in eine Art komischen Realismus.

Dennoch: Auch Schroeter vermag letztlich nicht überzeugend zu begründen, warum (nach Andrea Breth im Februar in Wien) auch er diesen "Bewusstseinsstrom" (Müller), zu dem der Autor anmerkte, der "Text ist manchmal zu lang zum Spielen", heute wieder gespielt wird. Dass alle menschlichen Kontakte wie im Stück Deals, Geschäfte und Austausch sind, dass nicht mehr wahre Gefühle, sondern nur mehr die Wünsche nach Geld, Wohlstand oder Sex regieren, dass selbst jede Emotion nur im geschäftlichen Austausch zu haben ist, das ist eine so aktuelle wie allgemein bekannte Tatsache.

Nun gut, Koltès erklärt seine Außenseiter der Gesellschaft nicht, sondern er verklärt sie und schreibt für sie einen glasklar raunenden Bedeutungssound. Das mag ein Grund für die Stückrenaissance sein, findet unsere Gesellschaft doch neuerdings wieder das Unerklärliche spannend, oder, wie es in den Dramaturgien der Theater heißt, "es muss ein Rest bleiben."

Doch bei Koltès bleiben allzu viel Rest, manch Schwulst, einige Redundanz und vor allem wenig theatrale Ökonomie. Bei aller partiellen Faszination von Werner Schroeters Inszenierung muss auch sie sich durch etliche tiefe Spannungslöcher hangeln - manche der Sitzkissen in der Volksbühne wurden so zu Ruhekissen umfunktioniert.