"Alle dachten, es ist jetzt ein Krieg ausgebrochen"

Kathrin Röggla im Gespräch mit Susanne Burckhardt · 11.09.2011
Am 11. September 2011 war Kathrin Röggla in Manhattan. Sie sah das Inferno aus der Nähe, später hat sie aus ihren Beobachtungen und Reflexionen Literatur gemacht. Sie fand "sehr unheimlich", wie New York in wenigen Stunden militarisiert wurde.
Sie ist Autorin, Dramatikerin, Journalistin und hat die Anschläge auf das World Trade Center in New York am 11.9.2001 unmittelbar, tausend Meter entfernt, miterlebt und später in ihrem Buch "Really Ground Zero" ihre Erlebnisse und Eindrücke geschildert.

Einleitend heißt es darin: "Zunächst stand ich vor der Frage, was ich damit mache, mit diesem Haufen an Authentizität, mit diesem scheinbaren Aufgehen in einem Ereignis, in diesem zu großen Bild, in das man plötzlich wie eingezogen ist oder eingezogen wurde."

Susanne Burkhardt fragte Kathrin Röggla, ob damals ihr erster Impuls war: Ich muss das aufschreiben?

Kathrin Röggla: Nein, der erste Impuls war Orientierungssuche: Was ist hier überhaupt los, was passiert gerade? Ist es eine Situation, die bedrohlich ist, für mich jetzt direkt? Also es war – das klingt im Nachhinein vielleicht ein bisschen lächerlich, aber in den Medien wurde ja dann gesagt, es sind sechs Flugzeuge noch in der Luft, die sind über New York. Ich wohnte in einem sehr frei stehenden Hochhaus. Man ging erst mal auf die Straße runter und hat sich dann dort mit anderen Leuten unterhalten und das Geschehen einfach mal beobachtet oder versucht rauszukriegen, was man jetzt vernünftigerweise am besten machen würde.

Ich hab dann ganz einfach Mails nach Deutschland geschrieben, weil die Telefonleitungen tot waren. Und so fing es an mit dem Schriftlichen, und ich wurde dann ziemlich schnell gefragt auch, ob ich darüber was machen sollte. Ich hatte komischerweise am Anfang Skrupel, da gleich reinzugehen, Fotos zu machen und das aufzuschreiben, wie das jetzt professionelle Journalisten sofort machen würden, und hatte das Gefühl, ich müsse da, es ist jetzt eine Katastrophe, die da passiert, und es war so ein Pietätsgefühl da, mal Abstand zu halten. Es hat sich dann aber letztendlich, ja, habe ich dann zu der Bewältigungsstrategie gegriffen, die zu mir passt eben, das Schreiben. Das hat also einfach ein paar Stunden gedauert.

Burkhardt: Sie haben auch Fotos gemacht, waren unterwegs, die Fotos sind ja auch in dem Buch zu sehen – war diese Form, das abzubilden, also sich doch in die Rolle des Journalisten zu begeben, war das vielleicht auch eine Form, eine Distanz aufzubauen, indem man einfach nur sozusagen abbildet?

Röggla: Es spielt sicher mit rein. Ich muss aber dazu sagen, dass ich erst eben nach einer Weile damit begonnen habe und es im Grunde in den Fotos – man sieht es in den Fotos – nicht darum ging, quasi pornografisch dauernd die Türme abzubilden, wie sie einstürzen oder wie Menschen da rausspringen, also direkt zentralperspektivisch auf die Katastrophe im Hollywood-Stil loszugehen, sondern im Grunde die Reaktion der Leute, der Beobachter auch mit reinzunehmen und der Leute, die da in unmittelbarer Nähe, aber dennoch sicher stehen und gucken und drauf reagieren.

Also das ist in den Bildern viel stärker zu sehen als auch dann die Reaktion danach, also die Demonstrationen, die es dann gab gegen die Reaktion der Bush-Regierung oder im Grunde ganz normale kleine städtische Details, irgendwelche Flyer, irgendwelche Ankündigungen oder im Grunde Reste und nicht direkt sagen, die Katastrophe zur Ware zu machen und irgendwo dann zu verschiffen. Ich hab noch gut in Erinnerung, als ich da am nächsten Tag in der Penn Station am großen Bahnhof in New York war, dass diese Pharmacies, wo eben angeboten wurde, Fotos zu entwickeln, voll waren mit Stapeln von Amateurfotografien. Also im Grunde, das habe ich nie so heftig erlebt, ganz New York muss fotografiert haben wie verrückt und es am nächsten Tag zur Pharmacy gebracht haben und da…

Burkhardt: Ach, so schnell, gleich am nächsten Tag?

Röggla: Ja, es war ein oder zwei Tage, vielleicht war es auch zwei Tage später, aber das war so ein eindringliches Bild, diese Stapel von Fotografien. Und dann entstand auch ziemlich schnell die Idee, die amerikanische Situation zu lesen über dieses Ereignis, also sozusagen zu gucken, wie funktionieren die Medien, welche Sprache ist in der Politik üblich und was hat das mit dem 11. September jetzt zu tun. Und auch auf eine Weise mich zu orientieren oder Dinge zusammenzubringen – es ist auch immer auch ein subjektiver Teil dabei, dass man natürlich seine eigenen Reaktionen auch natürlich mit reinspielt. Aber letztendlich habe ich versucht, das relativ klein zu halten und mehr einfach als Reise zu sehen.

Burkhardt: Haben Sie denn in dem Moment, als die Türme einstürzten, begriffen, was da passiert?

Röggla: Ja, na klar. Das ist ja dann, irgendwie – die brannten ja …

Burkhardt: … die Tragweite dessen, was da …

Röggla: Das konnte natürlich niemand einschätzen, aber zugleich schien es ja am Anfang noch viel schlimmer zu sein, weil wir eben alle dachten, es ist jetzt ein Krieg ausgebrochen, direkt, also eben wie gesagt, sechs Flugzeuge noch in der Luft, die irgendwo rein … Das ist ja dann doch ein bisschen kleiner gewesen letztendlich, aber es war klar, das wird einen Krieg nach sich ziehen, das war vollkommen klar. Das wurde auch von Bush schon am ersten Tag klargemacht, dass es jetzt irgendwie über dieses "We will hunt them down", das kam ja ziemlich schnell, und das machte enorm Angst.

Und dann haben wir ja erlebt, in den ersten Stunden schon, wie schnell sich eine ganz normale Stadt, westliche Stadt, militarisieren kann – also dass überall plötzlich Militärfahrzeuge zu sehen waren, dass die Stadt in Zonen eingeteilt war, dass die Straßen entleert waren, dass man riesige Flugzeugträger auf dem Meer gesehen hat. Also das war schon sehr unheimlich, wie schnell das geht. Man denkt immer, gerade Manhattan, das ist so das Antimilitaristischste, was man sich irgendwie vorstellen kann, und dann, wie schnell das eben kippen kann und anders sein kann.

Burkhardt: Sie selbst schreiben in Ihrem Buch, dass es um die Frage geht, ich zitiere, "wie wir Realität mithilfe der Muster und Vorstellungen produzieren, die wir von der Wirklichkeit haben, und wie diese Realität dann auf uns zurückschlägt". Wie lässt sich denn die Vorstellung und Wahrnehmung von Wirklichkeit wirklich auseinanderhalten in so einer Situation?

Röggla: Im Grunde kann man ja sagen, dass wir selbst als Gesellschaft selbst Naturkatastrophen produzieren. Bei so einem politischen Ereignis ist es durchaus noch viel extremer, dass man sich schon auch fragen kann, wie wird so was hergestellt. Und da geht es nicht um direkte Schuldzuweisung, sondern ganz banal um zum Beispiel die Frage, dass die Terroristen ein Hollywoodbild reproduziert haben, und das wurde von Hollywood hergestellt oder wir als Konsumenten stellen es mit her. Und das ist so ein Teil davon: Wie funktioniert das, was da passiert? Weil wir eben in einer massenmedialen Gesellschaft leben und da es immer um Produktion von Realität gehen, also wir können es gar nicht mehr trennen. Genauso wie ich das erfahren hab, den 11. September, der war sozusagen, durch die Bank war das nicht ein authentisches – das war ironisch im Buch gemeint – authentisches Ereignis, das ich jetzt so wahrnehme, sondern es war …

Burkhardt: Obwohl Sie dabei waren?

Röggla: Wo ich dabei bin … sondern es war immer schon begleitet von medialen Kommentaren. Das heißt, selbst auf der Straße, wenn man sich da mit Leuten unterhalten hat, waren circa fünf Meter daneben, haben Leute Fernseher vor Geschäfte hingestellt und man hörte dann die Kommentare und die Interpretationen und sah diese Bilder von den Flugzeugen, die dauernd in die Türme … Also ich sehe quasi, die Türme brennen vor mir, und gleichzeitig sehe ich aber dauernd diese Bilder von diesen Flugzeugen, die da reinfliegen. Und so ist das von Anfang an vermischt und ich kann das gar nicht auseinanderdröseln.

Burkhardt: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit der Autorin und Dramatikerin Kathrin Röggla über ihre Erinnerung an den 11. September, die Anschläge auf das World Trade Center hat sie in unmittelbarer Nähe erlebt und später in Texten verarbeitet, im Buch "Really Ground Zero", später dann im Theaterstück "die 50 mal besseren Amerikaner/fake reports".

In der Medienberichterstattung, die Sie ja schon angesprochen haben, die dann auf die Anschläge oder die die Anschläge, kann man sagen begleitet haben und die dann darauf folgten, da lag ja schon jede Menge theatrales Grundpotenzial. War Ihnen schon klar, dass irgendwann daraus ein Theaterstück werden könnte?

Röggla: Das zunächst ganz und gar nicht. Ich war sehr mit dem Buch beschäftigt und mit meiner Vorgehensweise darin, und dann wurde ich gefragt, ob ich dieses Buch nicht zu einem Theaterstück machen würde. Und dann habe ich gesagt, das mache ich nicht, ganz einfach, weil es für mich jetzt nicht interessant ist, New Yorker Reaktionen in Deutschland auf der Bühne zu sehen, das hat so was von Voyeurismus dann auch. Wenn ich Theater mache, möchte ich ja immer auch die Leute ansprechen, die da drin sitzen oder die konfrontieren oder mit denen in Kommunikation treten und denen nicht irgendein exotistisches Spektakel liefern, sondern dass da was im Raum passiert, das herstellen. Und deswegen habe ich nur den Anfang sozusagen vom Buch genommen und dann eigentlich diese ganze deutsche Reaktion verarbeitet. Das ist im Grunde ein neuer Text geworden, der sehr viel mehr noch mit den Medien zu tun hat als jetzt das "Really Ground Zero"-Buch.

Burkhardt: Dieses Theaterstück heißt "die 50 mal besseren Amerikaner/fake reports". Jetzt ist es immer schwierig, über aktuelle politische Ereignisse ein Stück zu schreiben, weil Theater ja eine ganz andere Zeit braucht, um Themen abhängen zu lassen. Also ist das nicht immer gefährlich, wenn man solche aktuellen politischen Ereignisse benutzt, um daraus ein Stück zu machen?

Röggla: Ich glaube nicht. Ich meine, wir leben ja auch im Aktuellen, wir müssen ja auch damit umgehen und wir haben ja auch nicht die Zeit, es abzuwarten, sondern reagieren gleich. Und ich glaube, man kann schon sehr stark in der Gegenwart im Aktuellen ansetzen, auch fürs Theater. Ich muss mir natürlich einen Raum schaffen, einen theatralen, ich muss die Szene schaffen, und es kann dort natürlich keine Abbildungsszene sein. Ich kann nicht irgendwie repräsentieren jetzt à la Königsdramen, was da passiert, sondern muss meine eigene Form finden. Und ich bin fest davon überzeugt, dass man eben schon direkt reagieren kann – natürlich keine abschließende Analyse liefern, das ist klar. Aber so wie wir als normale Menschen immer reagieren müssen, kann auch das Theater immer reagieren.

Burkhardt: Sowohl in dem Buch als auch in dem Theaterstück fand ich einen Tonfall, der so ein bisschen was Distanzierendes hat, also vor allen Dingen im Buch. Also Sie sind wirklich als Beoachterin, und man hat manchmal nicht das Gefühl, dass Sie wirklich selber empfinden – das ist eine sehr distanzierte Beschreibung dessen, was da vor sich geht. War das auch für Sie eine Form, das ganze Geschehen von sich zu halten? Haben Sie das als Beobachter auch so erlebt oder …?

Röggla: Nein. Nein, nein. Also das ist schon bei diesem Genre jetzt sozusagen der Katastrophenbeoachtung im weitesten Sinn und der Beobachtung der Abarbeitung so eines Geschehens gerät das leicht zu … also man darf sich da nicht mit der Welt verwechseln. Meine Rolle ist da wirklich die des Beobachters oder der Beobachterin. Und was ich so gelesen habe von Kollegen, die dann sich selber stärker in den Vordergrund genommen haben, das wird dann schnell zu Kitsch und zu sentimental. Das hat mich einfach auch nie interessiert. Also ich war selber nicht die Hauptperson des Buches, sondern das ging eben mehr um diese Orientierung, die Wahrnehmung der Situation im Land und habe mich da eigentlich fast eher in der Rolle einer Reporterin, wenn man so will, gesehen als die einer Lyrikerin oder so oder einer Betroffenen. Das finde ich schon eine ganz wichtige Unterscheidung.

Burkhardt: Sie waren, Frau Röggla, heute vor zehn Jahren zufällig in New York, Sie hatten ein Stipendium bekommen, und Sie waren zufällig also dabei, als die Türme einstürzten. Wenn Sie heute zurückdenken, würden Sie sagen, das war – auch wenn es etwas zynisch klingt, diese Frage – es war ein Glück, dass Sie an diesem Tag in New York waren, oder würden Sie es eher als ein Unglück beschreiben?

Röggla: Ach, in der Kategorie kann ich das echt nicht beantworten. Zynisch kann man sagen, das wird sich noch herausstellen, ob meine Lunge doch vom Asbest zerlegt wurde und es irgendwann rauskommt, weil wir diese giftigen Dämpfe da dauernd eingeatmet haben, aber es war wie ein Katalysator oder es hat meine Beschäftigung mit gewissen Themen verstärkt. Ich habe mich schon sehr lange für dieses Thema Ausnahmezustand interessiert gehabt, und da war das natürlich für mich sehr interessant, es mal so zu erleben und auch stärker drüber nachdenken zu müssen. Also in dem Sinn war das, ja, wie ein Katalysator. Und das Thema ist mir ja geblieben, also das ist so ein Strang, an dem ich ja immer wieder weitermache und das war so ein wichtiges Glied in dieser Kette.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Kathrin Röggla, österreichische Autorin, schreibt Prosa, Hörspiele und Theatertexte.
Kathrin Röggla© picture-alliance / Erwin Elsner