Alexander Kluge über Hans Magnus Enzensberger

"Ein radikaler Gegner des Mainstreams"

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Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger.
Neugierig wie Alexander von Humboldt: Hans Magnus Enzensberger feiert 90. Geburtstag © picture alliance/dpa/Andreas Gebert
Moderation: Stephan Karkowsky · 11.11.2019
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Hans Magnus Enzensberger und sein Werk sind aus der Geschichte der Bundesrepublik nicht wegzudenken. Für den Filmemacher Alexander Kluge ist der Dichter, der heute 90 Jahre alt wird, ein leidenschaftlich neugieriger und kluger Chronist und Sammler.
Schon mit 33 bekam er den Büchnerpreis. Heute feiert Hans-Magnus Enzensberger seinen 90. Geburtstag. Und weil der Dichter nur ungern über sich selbst redet, gibt stattdessen sein Freund und Weggefährte, der Filmemacher und Produzent Alexander Kluge (Jahrgang 1932) Auskunft über ihn.
Danach gefragt, was er an Enzensberger vor allem schätzt, fällt Kluge eine ganze Menge ein. Vor allem: Enzensberger sei "ein Gärtner. Es gibt Dompteure in der Kultur, die nur 'ich' sagen können. Und zu den gärtnerischen Naturen gehört er". Er mache als Autor nicht nur, was ihm einfalle, sondern er kooperiere.

"Ein wirklicher Enzyklopädist"

Beispiele dafür seien zum einen die Zeitschrift "Kursbuch", die Enzensberger von 1965 bis 1975 herausgab, und zum anderen "Die andere Bibliothek", eine bibliophile Buchreihe, in der in regelmäßigen Abständen ausgewählte Einzelwerke der von Enzensberger geschätzten Autoren quer durch die Literaturgeschichte und in besonders schöner Aufmachung neu herausgegeben wurden.
Alexander Kluge wird am 07.02.2017 in Berlin bei der Preisverleihung "Journalisten des Jahres 2016" der Branchenzeitschrift "medium magazin" für sein Lebenswerk ausgezeichnet.
Filmemacher und Autor Alexander Kluge - Enzensberger in enger Freundschaft verbunden.© Britta Pedersen/dpa-Zentralbild
Kluge vergleicht Enzensberger, dem er Anfang der 1960er Jahre zum ersten Mal begegnete, mit Alexander von Humboldt: "Er ist ein wirklicher Enzyklopädist in unserem Jahrhundert. Das heißt, er interessiert sich für alles, er ist neugierig." Und so schweife er "wie ein denkender Unternehmer durchs Land." Gleichzeitig sei er "ein radikaler Poet". Enzensbergers Versesammlung "Allerleihrauh", für die er, den Märchensammlungen der Gebrüder Grimm vergleichbar, Gedichte zusammentrug, gehört für Kluge "zum schönsten, was es an Versen gibt".

Die "Eitelkeiten der Gegenwart" langweilen ihn

Für Alexander Kluge ist der zurückhaltende Enzensberger "ein radikaler Gegner des Mainstreams". Er habe "einen Witz im Kopf, der vollkommen kontinuierlich ist. Ich kann keinen Unterschied erkennen. Nur: Was rauskommt, hängt von der Umgebung ab." Wenn ihn also "die Eitelkeiten der Gegenwart" langweilten, gehe er dagegen.

Was beide Männer stets verbunden habe, sei ihre Erfahrung "der Stunde Null" gewesen, so Kluge. Er selbst war bei Kriegsende 13, Enzensberger 15. Die Auseinandersetzung beziehungsweise fehlende Auseinandersetzung der noch jungen Bundesrepublik mit ihrer NS-Vergangenheit hat den Filmemacher Kluge und den Dichter Enzensberger umgetrieben.
Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger am 28.05.1968 Veranstaltung gegen Notstandsgesetzgebung Großer Sendesaal des Hessischer Rundfunk in Frankfurt am Main
Enzensberger meldete sich auch 1968 zu Wort - hier bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung.© picture alliance / dpa / Manfred Rehm
(mkn)

Das Interview im Wortlaut:

Stephan Karkowsky: Mit 33 Jahren bereits bekam er den Büchner-Preis, ein Jahr vor Ingeborg Bachmann. Heute feiert Hans Magnus Enzensberger seinen 90. Geburtstag, und weil er nur ungern über sich selbst redet, bitten wir einen Weggefährten um Auskunft, den Filmemacher und Produzenten Alexander Kluge.
Auch bei Ihnen, Herr Kluge, fällt die Auswahl der vielen Künste schon schwer, Drehbuchautor, Philosoph, Jurist – was ist denn Enzensberger eigentlich für Sie zu allererst- Dichter, Schriftsteller oder schlicht Denker?
Kluge: Das ist er alles. Er ist auf der einen Seite ein wirklicher Enzyklopädist in unserem Jahrhundert. Das heißt, er interessiert sich für alles, er ist neugierig in erster Linie. So schweift er wie Alexander von Humboldt, den er ja auch beschrieben hat und über den er große Bände gemacht hat, wie ein denkender Unternehmer durch das Land. Gleichzeitig ist er ein radikaler Poet. Seine Sammlung "Allerleirauh" ist das Schönste, was es an Versen, an plebejischer Öffentlichkeit, an Versen, die vollkommen anonym sind, gibt, und er hat sie gesammelt. Wie Brüder Grimm Märchen gesammelt haben, so hat er diese wunderbaren Verse gesammelt, die jetzt Hannelore Hoger gerade vorgetragen hat.

Was Kluge und Enzensberger verbindet

Karkowsky: Welche Geschichte verbindet Sie beide, Herr Kluge, wo sind Sie sich zuerst begegnet? Wissen Sie das noch?
Kluge: Ja, in Frankfurt während der Protestbewegung. Wir sind ja beide Vor-68er. Also unser Lebenshöhepunkt liegt eher 1962, und wir sind Beobachter. Dort in Frankfurt sind wir, sagen wir mal, fünf Meter auseinander und beobachten beide. Da habe ich ihn kennengelernt. Er wohnte übrigens im Hinterhaus von Adorno. Man konnte von der Wohnung von Adorno sein Studierzimmer sehen, als er noch im Suhrkamp Verlag arbeitet, und Adorno sagte eines Tages, da hinten sitzt er. Damit meinte er Enzensberger.
Karkowsky: Und da haben sich ja gleich auch zwei gefunden. Hatten Sie gleich einen Draht zu ihm, oder war das erst mal so vorsichtige, tastende Annäherung, ein bisschen Distanz vielleicht auch?
Kluge: Vorsicht tastend von ihm aus. Von mir aus mit Respekt. Ich bin ja der Jüngere. Also wir haben uns dann später, weil uns die Lebenszeit einfach verbindet – er ist 1929 geboren, ich bin 1932 geboren –, da hat man doch schon ähnliche Blicke gehabt. Man weiß, was 1945 bedeutet, man weiß, noch lange vor 1989, woraus unser Land besteht. Dann haben wir uns angenähert, und wir haben etwa 30 Fernsehsendungen gemacht, bei denen ich der Frager bin, und er ist der Antworter.

Prägung durch die "Stunde Null"

Karkowsky: Dieses "woraus unser Land besteht" seit '45 oder durch '45, das haben Sie ja beide auch beruflich immer wieder verwendet. Enzensberger galt damals schon in den 50ern als zorniger junger Mann. Er schrieb da Zeilen wie "wer näht denn dem General den Blutstreif an seine Hose", und kurz darauf waren Sie ja auch auf einer ähnlichen Spur unterwegs. Sie provozierten und zeigten die Steine des Nürnberger Parteitagsgeländes, hinterlegt mit Hitlers Reden. War das einfach der Zeitgeist früher linker Ideale, oder gab es schon damals zwischen Ihnen beiden eine Verbindung, einen Zusammenhang?
Kluge: Man muss nicht links sein, um die Zeitgeschichte zu erleben, und wenn Sie ein Junge sind, ich von 13 Jahren, er von 15 Jahren, der im Jahr 1945 die Stunde Null miterlebt, wo die ganzen Frauen anfangen, das Regime zu übernehmen, die Naturalwirtschaft gilt, keine Bank im Raum, keine deutsche Regierung irgendwo da und ein Neuanfang beginnt, das ist unsere Zeit, verstehen Sie, und wir können diese Stunde Null empfinden, egal, wo wir uns befinden in den späteren Jahren.
Karkowsky: Enzensberger hat das Wilde, die frühen Jahre ja dann später eingetauscht gegen feine Ironie und auch gegen, ich zitiere jetzt: "die Verteidigung der Normalität", so hieß ein Essay im "Kursbuch" '68, heute noch ein großes Lesevergnügen. Da beklagt er den Wettbewerb um das Besondere, die Dünkelhaftigkeit des Außenseitertums. Wissen Sie, wo das plötzlich herkam? Er hat ja 1959 noch die Worte gedichtet: "ich bin keiner von uns".
Kluge: Ich sage Ihnen eins, er ist immer ein radikaler Gegner des Mainstream. Wenn alle sagen, jetzt kommt das Besondere, und jeder ziert sich, und der Narzissmus siegt, und unsere Berliner Hauptstadt ist voll davon, dann geht er eben auf den Gegenpol. Der hat sich nie verändert. Enzensberger ist eine Person und hat einen Witz im Kopf, der vollkommen kontinuierlich ist. Ich kann keinen Unterschied erkennen. Nur, was rauskommt, hängt von der Umgebung ab. Wenn ihn sozusagen die Eitelkeiten der Gegenwart, die sich mit Besonderheiten schmückt, wenn ihn das langweilt, geht er dagegen.
Karkowsky: Er schreibt ja dann über die Normalität, "auch wenn es etwas Armseligeres gibt als die Verachtung der Normalität, dann ist es ihre Anbetung". Ist das typisch Enzensberger, dass seine Texte nicht selten auf die falsche Fährte führen und bei Menschen den Eindruck auslösen, dass er seine Meinung auch gerne mal um 180 Grad wendet?
Kluge: Das ist nicht ein Irrtum oder etwas, sondern eine Meinung ist eine Kugel, das heißt, sie richtet sich nach allen Seiten. Die ist nichts Einseitiges. Man könnte jetzt das große Wort Dialektik gebrauchen, aber es ist etwas ganz Einfaches. Es ist ein umfassender Geist, und das Poetische ist so etwas, verstehen Sie. Das ist nicht, dass man Herbstblätter nur betrauert, wenn sie fallen, sondern es ist eine Intelligenz, die rundum schaut, und das ist er.

"Das 'Kursbuch' war eine Sensation"

Karkowsky: Diese "Kursbuch"-Reihe, aus dem der Text stammt, herausgegeben von Enzensberger seit 1965, wie würden Sie das einem heute 18-Jährigen erklären? Was war das, und wie wichtig war das "Kursbuch"?
Kluge: Das "Kursbuch" war eine Sensation. Schon der Name ist ja sehr gut. Also es ist ein Fahrplan, das ist eine Richtung, Orientierung. Ich möchte wo hinfahren. In dem "Kursbuch", das war die oppositionellste Sammlung von wichtigen Mitteilungen und Nachrichten während der Protestbewegung und auch schon davor. Ich muss Ihnen sagen, das und die Andere Bibliothek, da zeigt sich eine Eigenschaft von Enzensberger. Er macht eben nicht nur als Autor das, was ihm einfällt, sondern er kooperiert. Er ist der Anführer von anderem, Fremdem, was er vereinigt. Er ist auch ein Gärtner. Es gibt sozusagen Dompteure in der Kultur, die nur ich sagen können, und es gibt Gärtner, und zu den gärtnerischen Naturen gehört er.
Karkowsky: Haben Sie heute noch Kontakt?
Kluge: Ach, na sicherlich, ich werde heute Abend ihn sehen bei Schumanns, da feiert er mit seinen Freunden in München seinen Geburtstag, und ich habe ihm vorgestern erst ein Exemplar vom "Volltext" überreicht. Das ist eine österreichische Literaturzeitschrift, wo ich 30 Seiten ihm gewidmet habe. Ich mag ihn, wenn Sie so wollen, ich liebe, was er macht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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