Aleviten

Beherrsche deine Hand, Zunge und Lenden

Der Lehrer Mete Özcan unterrichtet an der Brüder-Grimm-Schule in Hanau Grundschüler verschiedener Klassen in alevitischer Religion (Foto vom 07.06.2010).
Alevitischen Religionsunterricht in der Schule gibt es bereits - jetzt kann man alevitische Theologie auch an der Universität studieren © Jörn Perske / dpa
Von Kemal Hür · 08.02.2015
Das Alevitentum gilt oft als liberale Spielart des Islam. Allerdings verstehen sich viele Aleviten gar nicht als Muslime. In Hamburg wurde jetzt der weltweit erste Lehrstuhl für alevititsche Theologie eingerichtet.
In einem Hörsaal der Universität Hamburg: Ein Mann singt ein alevitisches Lied und begleitet sich selbst auf der türkischen Langhalslaute Bağlama. Diese Musik steht in direktem Zusammenhang mit der Antrittsvorlesung der Juniorprofessorin Handan Aksünger in alevitischer Theologie. Ein Lehrstuhl dafür wurde weltweit zum ersten Mal eingerichtet. Die Heimat der Aleviten ist die Türkei. Der Staat erkennt den Glauben der 20 Millionen Menschen aber nicht an, denn er betrachtet ihn als Teil des Islam. In Deutschland leben schätzungsweise 700.000 Aleviten, sie sind hier als Glaubensgemeinschaft anerkannt. Die Bağlama und die geistlichen Lieder, die bei diesem festlichen akademischen Ereignis vorgetragen werden, sind ein fester Bestandteil des Alevitentums. Über die Dichtung und die musikalischen Gebete wurden die Glaubensinhalte Jahrhunderte lang tradiert. Handan Aksünger stellt deswegen einige Verse des alevitischen Dichters und Barden Meluli in deutscher Übersetzung ihrer Vorlesung voran.
"Gott ist uns näher als wir uns selbst. Du brauchst nicht in die Ferne zu gehen, um dies zu sehen. Öffne deine Augen und erblicke den Menschen. Sei wachsam und geh mit dem Einklang. Verlasse nicht die wahre Perle im Menschen und gehe nicht in die Wildnis. Das ist das Wort der vier Bücher. Das ist der Kern der Wahrheit. Das ist die Spur der Wirklichkeiten. Verlasse diesen Weg nicht. Ich bin Meluli, äußerlich ein Mensch; innerlich die verborgene Wahrheit Gott."
Vierzig Stufen zur Vervollkommnung des Menschen
Die 36-jährige Professorin Aksünger beginnt ihre Vorlesung aus zwei Gründen mit diesem Gedicht. Sie verweist damit auf die Methode und den Inhalt ihrer zukünftigen Beschäftigung mit der alevitischen Theologie. Methodisch bilden die Gedichte und Gebete eine der Hauptsäulen der Quellen des Alevitentums. Das Alevitentum ist keine Buchreligion. Es stellt den Menschen ins Zentrum. Der Mensch selbst ist das Buch, das es zu lesen und verstehen gilt, sagt der Glaube. Die Aleviten bezeichnen ihren Glauben nicht als Religion, sondern als einen Weg – den Weg zur Vervollkommnung des Menschen. Dieser Weg führt über vier spirituelle Stadien und 40 Stufen. Handan Aksünger:
"Das erste ist das Şeriat-Tor: Es sind die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens zu lernen – nicht zu verwechseln mit dem Scharia-Verständnis. Zweitens, das Tarikat-Tor: Es ist der mystische Pfad, auf den man sich begibt, indem man diese rituellen Beziehungen eingeht. Und es ist ein Weg von außen nach innen, um im dritten Tor die Fähigkeit zur Erkenntnis zu erlangen, d.h. auch Wissen anzueignen, um die Wahrheit zu erreichen. Dies bedeutet, dass jeder und jede Person miteinander verbunden und ein Teil des Ganzen ist."
Diese Wahrheit ist das vierte Tor und das Ziel des Weges. Der Prozess der Vervollkommnung wird im alevitischen Glauben im Diesseits angestrebt. Jenseitsvorstellungen spielen kaum eine Rolle. Das Paradies oder die Hölle kann der Mensch abhängig von seinen Handlungen im Hier und Jetzt erleben. Auf dem spirituellen Weg müssen ethisch-moralische Verhaltensregeln befolgt werden. Alle Aleviten kennen sie zusammengefasst in einer Maxime: "Beherrsche deine Hand, deine Zunge und deine Lenden".
Handan Aksünger, die Ethnologie studiert hat, erklärt sie ihren nicht-alevitischen Hörern unter den 500 Gästen im Hörsaal.
"Die Hand zu beherrschen bedeutet, nicht zu stehlen und keine Gewalt auszuüben. Die Beherrschung der Zunge fordert auf, stets die Wahrheit zu sagen. Die Aufforderung, seine Lenden zu beherrschen, impliziert, sexuelle Handlungen auf die monogame Ehe zu beziehen. Polygamie ist verboten."
Ihre erste Vorlesung widmet Handan Aksünger, die selbst Alevitin ist, nicht komplett der Einführung in die alevitische Lehre. Sie gibt auch einen Überblick über die Themen, die sie ab dem kommenden Wintersemester, also ab Oktober, behandeln wird. Dazu gehören die Erforschung der mündlichen und schriftlichen Quellen und die Geschichte des Alevitentums genauso wie auch die Analyse der praktischen Glaubensausübung. Ein weiteres Thema soll der interreligiöse Dialog sein. Denn das Fach Alevitische Theologie ist in der Akademie der Weltreligionen angesiedelt, wo bereits viele Religionen auf dem Lehrplan stehen. Studierende können das Alevitentum erforschen. Sie können das Fach aber auch im Rahmen eines Lehramtsstudiums belegen und später alevitischen Religionsunterricht erteilen.
"Wichtig, den alevitischen Glauben wissenschaftlich zu erforschen"
Nach der Vorlesung führen zwei Frauen und zwei Männer auf der Bühne den rituellen Semah-Tanz vor. In Begleitung der Bağlama-Musik drehen sie sich gleichzeitig im Kreis und um die eigene Achse. Sie bewegen dabei ihre Arme wie die Vögel ihre Flügel. Der Semah, aus dem der Tanz der Derwische entstanden ist, symbolisiert das Universum. Die Tanzenden wollen damit Gott näherkommen. Semah wird eigentlich nur während einer Cem-Zeremonie getanzt, während des Gottesdienstes der Aleviten. Dieser findet drei bis sechs Mal im Jahr statt und wird von einer Würdenträgerin oder einem Würdenträger geleitet. Ein solcher ist auch Cafer Kaplan, Vorsitzender des Geistlichen Rates der Alevitischen Gemeinde in Deutschland. Für ihn ist die Errichtung eines Lehrstuhls für Alevitische Theologie ein historisches Ereignis:
"In der heutigen Zeit ist es wichtig, den alevitischen Glauben wissenschaftlich zu erforschen. Bisher haben wir den Glauben mündlich überliefert. Jetzt werden wir Geistlichen unser Wissen anhand der Forschung überprüfen können. Und die Vermittlung des Glaubens wird mit der universitären Lehre und Forschung den heutigen Bedingungen angepasst."
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