Alejandro Zambra: "Ferngespräch"

Interessantere Variante der Realität

Das Buchcover von „Ferngespräch“ montiert vor ein Bild der chilenischen Wüste.
„Ferngespräch“ - Elf Erzählungen von Alejandro Zambra © Suhrkamp Verlag / dpa / picture alliance / Fotoreport ESO / Collage: Deutschlandradio
Von Katharina Döbler · 09.06.2017
Alejandro Zambra ist ein Magier der kleinen Form, der aus banalen Ereignissen, Träumen und Vermutungen etwas Neues entstehen lässt. "Ferngespräch" besteht aus elf Erzählungen - jede eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit.
Es ist eine Spezialität des chilenischen Autors Alejandro Zambra, in Kleinigkeiten große Geschichten zu verstecken. Sein Debütroman "Bonsai" von 2006 ist einer der kleinsten Romane der Literaturgeschichte, gerade einmal 40 Seiten Typoskript und enthielt alles, was einen gelungenen Roman ausmacht. Nun ist eine Sammlung von elf Erzählungen erschienen, bei denen wir Leser Zeugen werden, wie Zambra, der Magier der kleinen Form, aus banalen Ereignissen, Träumen und Vermutungen etwas Neues entstehen lässt.
Die erste Erzählung heißt "Eigene Dokumente" – und sie gibt das literarische Programm vor. Da erinnert sich einer an seine erste Begegnung mit einem Computer anno 1980 (Zambra ist Jahrgang 1975) und die Zeit damals: das Familiengeflecht, das große Schweigen über Pinochet und Politik, der selbstverständliche Katholizismus, der Aufbruch aus der Enge. Kurz, es ist eine Geschichte vom Heranwachsen und parallel dazu eine Geschichte des Schreibens: "Mein Vater war ein Computer, meine Mutter eine Schreibmaschine. Ich war ein leeres Heft und jetzt bin ich ein Buch."

Helden mit dem Hang zur Lüge

Wie aus dem Ich ein Buch wird, wie sich Erinnerung zur Literatur verhält, das spielt Zambra durch wie in einem Schattentheater. Zum Beispiel in der Erzählung "Gedächtnisübung", der grausamsten und traurigsten in diesem Buch. Der Ich-Erzähler, ein bekannter Schriftsteller, soll einen lateinamerikanischen Kurzkrimi verfassen; er erinnert sich an ein Mädchen, in das er als Teenager verliebt war und deren Vater ihn aus unklaren Gründen verprügelt hat. Daraus macht er nun einen Vatermord, der nie geschehen ist. Für ein paar Sätze nur wird er wahr, imaginärer Ausweg aus einer lähmenden Hilflosigkeit.
Überhaupt, die Wahrheit: Zambras Helden, der immer wieder auftretende, autobiografisch schillernde Ich-Erzähler und die anderen realitätsfernen und mit ihrer Männlichkeit hadernden Hauptfiguren, haben einen ausgeprägten Hang zum Lügen. Der reicht von dem Bären, den man der aktuellen Freundin aufbindet, bis hin zu den Fantasien, die die banalen Zumutungen der Welt in eine andere, theatralischere Beleuchtung tauchen. Das geschieht mit viel Ironie und Lust am metaphorischen Spiel - und so überzeugend, dass die Leserin Zambras Erfindungen bereitwillig als die interessantere Variante der Realität akzeptiert.

Alejandro Zambra: Ferngespräch. Stories
Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
237 Seiten, 22,00 EUR

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