Alberto Vigevani: "Ein kurzer Spaziergang"

Ein Meisterwerk der Nachkriegsliteratur

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Cover des Buches "Ein kurzer Spaziergang" von Alberto Vigevani
Die Erzählung "Ein kurzer Spaziergang" bietet die Möglichkeit, den Schriftsteller Alberto Vigevani als eine der Größen der italienischen Literatur zu entdecken. © Deutschlandradio / Matthes und Seitz Berlin
Von Marko Martin · 07.04.2021
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Die Erzählung beginnt mit einer skurrilen Hochzeitsreise und weitet sich zu einer jüdischen Familiengeschichte im Italien des Zweiten Weltkriegs. Ein poetischer Einspruch gegen Gewalt und Vergesslichkeit, bei dem kein einziges Wort überflüssig ist.
Es beginnt beinahe possierlich. "Nach einer langen Zeit des Vergessens" findet der Ich-Erzähler auf dem Dachboden seines Landhauses einen alten Überseekoffer wieder, einst ein Hochzeitsgeschenk von Verwandten, Relikt aus längst vergangenen Zeiten mondänen Reisens. Und so waren er und seine Ehefrau Anna vor vielen Jahrzehnten schließlich zu ihren Flitterwochen aufgebrochen, von Mailand bis hinunter nach Capri und Positano, ein gutbetuchtes junges Paar.
Aber weshalb dabei dieses Ungetüm von Koffer mitschleppen? Weil es das Jahr 1938 ist und sich die beiden vorbereiten wollen. Schon bald nämlich könnte der Überseekoffer für ungleich längere Zeit ihr Begleiter sein.

Welt des mehr oder minder stabilen Wohlstandes

"Der Grund, weshalb wir uns unter den vielen Vorschlägen für dieses Geschenk entschieden, war, dass wir die Absicht hatten, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, denn die Rassekampagne wütete, und aus Hitlerdeutschland war schon die Nachricht von den Pogromen der `Kristallnacht´ gekommen. Der direkte Anlass, mit gerade z20 Jahren und weitaus früher als geplant zu heiraten, war das Dekret gegen die sogenannten ´Mischehen´, das zwei Wochen später in der ´Gazzetta Ufficiale´ veröffentlicht wurde. Ich bin Jude und Anna wurde als Tochter eines Juden und einer gläubigen Katholikin als ´arisch´ eingestuft, so widerlich diese Definition auch für sie war."
Das junge Paar bringt es dann jedoch ebenso wenig über sich, ihr geliebtes Italien zu verlassen, wie jene Tante Jole und Onkel Giorgetto, die zur Hochzeit den Koffer beigesteuert hatten. Noch immer bewegen sie sich alle in einer Welt mehr oder minder stabilen Wohlstands, pflegen ihre Marotten – "manchmal von einem Optimismus gefärbt, der fehl am Platz war, während man sie zu einem tätigen Pessimismus hätte anspornen müssen".
Die Welt, die der italienische Schriftsteller Alberto Vigevani (1918-1999) hier noch einmal aufscheinen lässt, erinnert an Giorgio Bassani, und in der Tat scheint im Silberlöffelgeklirr des von ihm mit sensualistischer Präzision beschriebenen Wohnungsinterieurs das Tennisball-Plopp-Plopp aus den "Gärten der Finzi Contini" nachzuzittern.

Ein Großer der italienischen Nachkriegsliteratur

Höchste Zeit also, Vigevani, von dem immerhin bereits drei weitere Bücher auf Deutsch vorliegen – sie alle in der feinfühligen Übersetzung von Marianne Schneider –, auch hierzulande als einen der ganz Großen der italienischen Nachkriegsliteratur zu entdecken. Umso mehr seine Erzählung "Ein kurzer Spaziergang" weit mehr ist als lediglich ein Erinnerungsparcours durchs Selbsterlebte.
Zwar hatten er und seine Frau Anna nach dem nazideutschen Einmarsch 1943 in quasi letzter Minute in die Schweiz entkommen können, doch waren Tante Jole und Onkel Giorgetto nicht mit der Gabe solcher Tatkraft beschenkt. Beide fallen in die Hände der faschistischen Polizei und werden unter entwürdigenden Bedingungen interniert.

Sie verschwanden im Grauen

Jahrzehnte später trifft Alberto Vigevani einen der damaligen Leidensgefährten des Ehepaars, der noch immer traumatisiert wirkt und wortkarg ist, jedoch zumindest kursorisch vom "letzten Abenteuer" des lebenslustig-unbedarften Onkel Giorgetto berichtet: Dank eines geradezu aberwitzigen Zufalls hatte dieser unbemerkt aus der Internierungskaserne herausspazieren können und so zumindest noch eine knappe Stunde Freiheit erlebt, ehe er zu seiner geliebten und inzwischen völlig apathisch gewordenen Frau zurückkehrt, ehe die beiden zusammen mit Hunderten italienischer Juden ausgeliefert werden, ehe man sie in Viehwaggons zusammenpfercht, die in Richtung Auschwitz rollen.
"Außer dem von mir eingeholten Zeugnis ist keines vorhanden. Keine geschriebene Zeile, kein Satz. Sie verschwanden nicht im Nichts, sondern im Grauen." Gerade deshalb aber stellt sich Alberto Vigevani vor, was der Onkel bei seinem letzten "Kurzen Spaziergang" noch gesehen, gerochen, geatmet und gefühlt hatte – "durch eine Annäherung, die voll Zuneigung und Solidarität (nicht Mitleid) war und in mir über sein Ende hinaus andauert."
Kaddisch und Epitaph, Erinnerung und Einspruch, eine geradezu strenge Zärtlichkeit ohne die Ausflucht ins Sentimentale: ein literarisches Meisterwerk, geradezu weil es auf jegliches gravitätische Tremolo verzichtet, ohne einen einzigen falschen Ton.

Alberto Vigevani: "Ein kurzer Spaziergang". Erzählung
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
Friedenauer Presse, Berlin 2021
77 Seiten, 16 Euro

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