Ahnungslos in Berlin

20.12.2006
Als der junge amerikanische Journalist 1918 ins brodelnde, von Umsturzbewegungen gekennzeichnete Berlin kommt, stolpert er ziemlich ahnungslos und ohne Deutschkenntnisse durch die Straßen. Er soll für die Amerikaner spannende Berichte aus Deutschland abliefern, kennt aber nicht mal Karl Liebknecht. In seiner 1953 erschienenen Autobiografie, die jetzt auf Deutsch vorliegt, sieht sich Hecht im Rückblick als politischen Naivling.
Nach seiner Lieblingsbeschäftigung befragt, antwortete der stilsichere Theater- und Kunstkritiker Alfred Kerr (1867-1948) einmal: "Seefahren. Musik machen. Kindern Gutnacht sagen. Atmen. Sätze meistern. Und Krach". Kerr gehörte zu jener Garde brillanter Intellektueller, die den politischen "Krach" im Berlin der Jahrhundertwende scharfzüngig kommentierten und aus der Perspektive des kleinen Mannes, des Gestrauchelten, aber auch des Hochstaplers einfingen. Die Metropole Berlin zog seitdem eine Vielzahl ausländischer Korrespondenten sowie Intellektuelle und Künstler in ihren Bann.

Im Jahr 1918 kommt auch der junge amerikanische Journalist Ben Hecht nach Deutschland, um spannende Berichte aus dem lauten, von politischen Erschütterungen erfassten Berlin zu schreiben. 1894 im jüdischen Ghetto von New York geboren, arbeitet er seit seinem sechzehnten Lebensjahr im Zeitungsgeschäft. Im Auftrag der "Daily News" soll er den amerikanischen Lesern ein Land nahe bringen, das soeben den Ersten Weltkrieg verloren hat und vor gravierenden politischen Veränderungen steht.

Recht ahnungslos und mit Klischees von rauchenden Colts und staubiger Prärieluft ausgestattet, irrt er durch die Straßen, ohne der deutschen Sprache mächtig zu sein. Der Name Alfred Kerr sagt ihm nichts und Karl Liebknecht ist für ihn ein Mister Nobody. Erstes Berichtsmaterial ergattert Hecht derweil vom Direktor des Hotel "Adlon" und vom Holzlieferanten des Kaisers. In seinen Kolumnen diskutiert er die Sinnlosigkeit einer bevorstehenden Revolution. Wichtiger scheint ihm, Philipp Scheidemann aufgrund seines dandyhaften Schnurrbarts mit Buffalo Bill zu vergleichen. Denn "in Chicago war mir beigebracht worden (möglicherweise von mir selbst), Haare oder die Kleidung betreffende Sonderbarkeiten auszuschlachten", also einen Politiker wie "Freiwild" zu betrachten.

Erst 1953 erinnert sich Ben Hecht beim Schreiben seiner Autobiographie "A Child of the century" (1954) an jene deutschen "Geschichten" im Revolutionsjahr 1919. Inzwischen machte er als der "Shakespeare von Hollywood" Karriere, schrieb Drehbücher für Billy Wilder und Hitchcock. Ab 1939 kämpfte Hecht mit einer nun spitzen Feder gegen die Vernichtungspolitik Deutschlands. Mit dem Theaterstück "We will never die", zu dem Kurt Weill die Musik lieferte, wurde er auch als Stückeschreiber bekannt.

Ben Hechts später Rückblick dient dazu, die eigene Biographie ins Visier zu nehmen, denn sein "jugendlicher Zynismus" hatte bereits während des Aufenthalts in Berlin, Weimar und München "viel von seinem Grinsen verloren". Nachdem das Jahrhundert seine Unschuld verloren hat, scheint ihm das Werben Amerikas um die Deutschen "als Bollwerk gegen den Kommunismus" 1953 ebenso stark wie 1919. Als einstiger Augenzeuge will Hecht eine Perspektive liefern, "wie sie den Geschichtsbüchern immer entgeht". Die vielschichtige Gedächtnisstruktur des Autors lässt ahnen, welche privaten Revolutionen in seinem Inneren vor sich gegangen sind.

Rezensiert von Carola Wiemers

Ben Hecht: Revolution im Wasserglas. Geschichten aus Deutschland 1919
Aus dem Englischen v. Dieter H. Stündel und Helga Herborth
Mit einem Nachwort v. Helga Herborth und Karl Riha
Berenberg Verlag 2006
107 Seiten. 19 Euro