Agentin im Kampf gegen Hitler-Deutschland

08.01.2007
Ruth Gilmartin fährt aufs Land und besucht ihre Mutter. Die alte Dame ist verwirrt und fühlt sich verfolgt. Ihrer Tochter offenbart sie, dass sie während des Zweiten Weltkrieges als Spionin tätig war. - William Boyds Roman "Ruhelos" entpuppt sich als ein spannender Spionage-Roman, dem allerdings der Brückenschlag in die Gegenwart misslingt.
Die erste Regel, die ein Spion in der Ausbildung zu lernen hat, lautet: "Traue niemandem!" Das ist mehr als eine Dienstanweisung. Es ist die Einübung in eine andere, einsame Existenzweise, in dauernde Selbstkontrolle und lauernde Hypersensibilität. Der britische Autor William Boyd ist fasziniert von dieser Lebensweise und wollte deshalb unbedingt einmal einen Spionagethriller schreiben.

Boyd, 1952 im westafrikanischen Accra geboren, hat sich darauf spezialisiert, Fiktion und Realgeschichte kunstvoll miteinander zu verschränken. "Die neuen Bekenntnisse" war die Autobiographie eines fiktiven Filmregisseurs, dessen künstlerischer Werdegang so in die Filmgeschichte eingebettet war, dass man geneigt war, im Lexikon nach ihm zu suchen. "Eines Menschen Herz" war das Tagebuch eines erfundenen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts, der mit Picasso, Hemingway oder Virginia Woolf zusammentraf.

In "Ruhelos" erzählt er nun die Geschichte des britischen Geheimdienstes, der sich in den Jahren 1939 bis 1941 verzweifelt darum bemühte, die Amerikaner zum Kriegseintritt gegen Deutschland zu bewegen. Hitler feierte seine militärischen Erfolge: Frankreich war besiegt, Europa besetzt, der Vormarsch im Osten führte bis kurz vor Moskau. England stand alleine gegen diese Übermacht, und die USA zögerten.

Philip Roth hat mit dem Roman "Verschwörung gegen Amerika" die Möglichkeit durchgespielt, was hätte passieren können, wenn die amerikanischen Isolationisten zusammen mit der antisemitischen Organisation "America First" die Oberhand gewonnen hätten und der Hitler-freundliche Charles Lindbergh zum Präsidenten gewählt worden wäre. Boyds "Ruhelos" ist eine Art Gegenstück dazu – keine Fiktion, sondern gut dokumentierte Geschichte: Mehr als 3000 Mitarbeiter der BSC (British Security Coordination) waren damit befasst, die USA in die Kriegshandlungen hineinzuziehen. Wieder ist "America First" ein wichtiger Gegenspieler. Die BSC operierte sie mit Falschmeldungen, die eine zunehmende Bedrohung der USA suggerieren sollten. Boyd schildert minutiös, wie diese Desinformations-Agenturen zwischen Brüssel, Paris und New York arbeiteten und zeigt, wie sie ihre Erfindungen in den Welt-Nachrichtenstrom einspeisten, damit sie authentisch wirkten. Die Regel "Traue niemandem" gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für Meldungen.

Höhepunkt ist eine Karte Südamerikas, das angeblich von den Nazis neu aufgeteilt werden soll. Selbst die Fluglinien der Lufthansa sind darauf schon eingezeichnet, und der Panama-Kanal gehört zum deutschen Hoheitsgebiet. Sogar Präsident Roosevelt fiel auf diesen Fake herein und zitierte die Karte in einer Rede. In Boyds Story steht die Karte im Mittelpunkt. Von hier aus führt der Verrat in viele Richtungen. Doch entscheidend für den Kriegseintritt der USA ist schließlich nicht die Arbeit des BSC, sondern der japanische Angriff auf Pearl Harbour. Die Anstrengungen, mit Intrigen, Lügen, Mord und Erpressung am Rad der Geschichte zu drehen, waren damit überflüssig. So steht am Ende die Einsicht, "wie unbedeutend und kleinkariert das alles war, wenn es ums ‚große Ganze‘ geht."

Die Story, die Boyd um diese historischen Kern herum entwirft, beginnt im Sommer 1976. Die Ich-Erzählerin Ruth Gilmartin fährt von Oxford aus aufs Land, um ihre Mutter zu besuchen. Die alte Dame wirkt verwirrt und fühlt sich verfolgt. Schließlich offenbart sie ihrer fassungslosen Tochter, dass sie in Wirklichkeit nicht Sally Gilmartin heißt, sondern Eva Delektorskaja. Kapitelweise überreicht sie der Tochter ihre Lebensgeschichte als Spionin, die schließlich erst auf der Gegenwartsebene ihre Auflösung findet. Doch die gelernte Spionin ist nicht mehr zu erlösen. Hatte sie ihre Tochter in der Kindheit damit beunruhigt, dass eines Tages jemand kommen werde, um sie abzuholen, so steht sie am Ende des Roman mit einem Fernglas am Fenster, um den nahen Waldrand nach Verdächtigem abzusuchen – ruhelos. Es ist der Tod selbst, vor dem sie sich fürchtet. Der Roman lässt sich auch als Gleichnis auf die menschliche Existenz lesen.

So stark, so spannend und so überraschend die Spionage-Geschichte sich entwickelt, so unterbelichtet bleibt die Gegenwartsebene mit der Lebensgeschichte der Tochter Ruth. Das wirkt ein wenig lustlos, als habe Boyd sich dafür nicht wirklich interessiert. Ruth war mit einem Deutschen verheiratet, dessen Bruder sie nun beherbergt. Angeblich hat er Beziehungen zur RAF, die Polizei ist hinter seiner Freundin Ilse her. Doch das bleibt unausgeführt. Geschichte wird hier bloß noch zitiert, um des Effektes willen. Boyd wollte wohl dem Kampf der Mutter gegen Hitler-Deutschland eine Deutschland-Entsprechung auf der Gegenwartsebene entgegenstellen. Das funktioniert leider nicht. "Ruhelos" hätte ohne diese Schwäche ein großartiger Roman werden können.

Rezensiert von Jörg Magenau

William Boyd: Ruhelos
Aus dem Englischen von Chris Hirte
Berlin Verlag, Berlin 2007
366 Seiten, 22 Euro