Afghanistan

Selbstmorde mit Rattengift

Ein mühsamer Kampf: Fausia Hamidi setzt sich für die Rechter afghanischer Frauen ein.
Ein mühsamer Kampf: Fausia Hamidi setzt sich für die Rechter afghanischer Frauen ein. © Sabina Matthay
Von Sabina Matthay · 31.03.2014
Frauen sind in Afghanistan komplett abhängig von Männern, Gewalt gegen sie wird ausdrücklich gebilligt. Viele junge Frauen sehen nur einen Ausweg: Selbstmord. Die Raten sind sprunghaft angestiegen. Dabei tut sich im Land eine Menge, theoretisch werden Frauen zunehmend Rechte zugestanden. Doch Verstöße werden nicht verfolgt - und mit dem Abzug der NATO-Truppen drohen neue Probleme.
Fausia Kofi hat in ihrem Leben schon viel erreicht – als erste Afghanin bekleidet sie das Amt der stellvertretenden Parlamentspräsidentin - und die Politikerin will noch höher hinaus:
Präsidentin von Afghanistan, das kann die Abgeordnete aus der nördlichen Provinz Badakhshan sich durchaus vorstellen. Mit 38 ist sie zwei Jahre zu jung, um diesmal anzutreten. Aber die nächste Chance hat sie bereits im Blick:
"I don’t want to run for the sake of running, I want to run to win."
Diesen Glauben an sich selbst muss eine Afghanin besitzen, wenn sie sich behaupten will. Doch es habe sich schon viel bewegt für Mädchen und Frauen in ihrer Heimat, sagt die verwitwete Mutter zweier Töchter.
"Many, many positive things have happened... in school, in work, in civil society."
Auf dem Lande geht es zwar noch rückständig zu, aber in den Städten gibt es heute Beamtinnen, Journalistinnen, Unternehmerinnen, in den Gemeinde- und Regionalräten sitzen Frauen und eben auch im afghanischen Parlament.
Fausia Kofi wurde 2005 in die Volksvertretung zu Kabul gewählt, fünf Jahre später bestätigten die Wähler sie sogar mit deutlich mehr Stimmen als für die parlamentarische Frauenquote nötig waren. Laut Quote sind 68 der 249 Sitze im Parlament für Frauen reserviert - also 27 Prozent.
Obwohl Kofi aus einer prominenten Familie stammt, die Loyalitäten in Form von Wählerstimmen einfordern kann, ist sie keine fremdbestimmte Quotenfrau.
Selbstmord ist eine große Sünde im Islam
Sie macht sich stark gegen Korruption, gegen die Rückkehr der Taliban an die Macht und für die Rechte der Frauen und scheut dafür keine Kontroversen. Das ist nicht ungefährlich: Kofi hat mehrere Anschlagsversuche überlebt. Und die gesellschaftlichen Hürden sind nach wie vor gewaltig, sagt sie:
"In einer konservativen Gesellschaft wie der afghanischen wird man kaum respektiert, wenn man jung ist, alleinerziehend und Frau. Wenn so eine etwas bewegen will, dann kriegen die Männer Angst. Dann kommen sie mit Anschuldigungen, stellen alles in Frage – von der Art, wie man sich kleidet bis zur Art, wie man redet - alles wird in Zweifel gezogen."
Nicht nur Politikerinnen zieht die afghanische Gesellschaft enge Grenzen. Ein selbstbestimmtes Leben bleibt für Frauen allgemein - selbst in relativ liberalen Gegenden des Landes - meist ein Traum. Manche zerbrechen daran.
Ein Friedhof wenige Kilometer vor Masar-i-Scharif. Ein paar Jungen spielen auf dem Totenacker, weit weg von der Hektik der nordafghanischen Provinzhauptstadt. Und weit weg auch vom Elternhaus der Schwestern Fariba und Nabila, die hier beerdigt sind.
Die Gräber der beiden Studentinnen sind mit Pflöcken und Feldsteinen markiert. Sonst nichts. Keine Tafel mit Inschrift erinnert an die Mädchen. So will es die Familie.
Bahir Ansari: "Die beiden haben Selbstmord begangen, und das ist eine große Sünde im Islam."
Der Journalist Bashir Ansari hat die Tragödie für einen nordafghanischen Sender recherchiert. Die Töchter aus wohlhabendem Hause schienen vom Glück begünstigt: jung, hübsch und gebildet, verkörperten sie die Fortschritte, die Afghaninnen seit dem Sturz des Taliban-Regimes gemacht haben.
"Doch dann hat sich Nabila verliebt. Und eine Beziehung zu einem Mann, den sie sich selbst aussucht, verstößt eklatant gegen den strengen Moralkodex der konservativen afghanischen Gesellschaft."
Fariba, die ältere Schwester, versuchte die Abiturientin zum Abbruch des Verhältnisses zu bewegen, damit die Familienehre keinen Schaden nehme. Es kam zu einem heftigen Streit. Der endete mit dem Tod der Schwestern: Nabila und Fariba schluckten kurz nacheinander Rattengift.
Die Zahl der Selbstmorde ist eklatant gestiegen
Mohammad Reza ist Inhaber einer Drogerie in der Stadtmitte von Masar-i-Scharif, die das Gift führt:
"Rattengift ist frei erhältlich, aber an Frauen und Mädchen verkaufen wir nicht mehr."
22 Selbstmorde von jungen Frauen wurde allein im ersten Halbjahr 2013 in der Provinz Balkh registriert, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. In Masar-i-Scharif und Umgebung ist von einer Selbstmordwelle unter jungen Frauen die Rede. Daran will der Drogerie-Besitzer Reza keine Mitschuld tragen.
Oft vertuschten Familien einen Selbstmord wegen des damit verbundenen Stigmas, sagen die Ärzte am Regionalkrankenhaus, doch die Mediziner sind sich einig, dass die Zahl in den letzten Jahren eklatant gestiegen ist. Doktor Noor Mohammad Faizi leitet die Klinik:
Manchmal wird alle paar Tage eine Selbstmordkandidatin eingeliefert, dann wieder sind es mehrere auf einmal, vor allem junge Frauen.
Gelangen sie schnell genug ins Krankenhaus, können die meisten nach Faizis Worten aber gerettet werden. So wie Khatera.
Der 28-Jährigen ist vor drei Tagen der Magen ausgepumpt worden. Jetzt hält ihre Mutter ihre Hand, der jüngste Sohn spielt am Krankenbett. Khatera, selbst Mutter von sechs Kindern, hat nicht zum ersten Mal versucht, sich das Leben zu nehmen.
"Manchmal überkommt mich einfach die Verzweiflung."
Khateras Lebensgeschichte verweist auf ein häufiges Motiv für Selbstmorde von Mädchen und Frauen in Afghanistan: Mit knapp siebzehn zwang die Familie sie zur Heirat mit einem sehr viel älteren Mann. Eine Ehe, die Khatera nicht wollte, sechs Kinder, die sie überfordern. Ein selbstbestimmtes Leben war ausgeschlossen. Depressionen waren die Folge.
Kein Einzelfall, sagt Heather Barr von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch:
"Das Interessante an den Berichten und Statistiken ist der Konsens darüber, dass zwischen Zwangsehen und Selbstmorden junger Frauen eine Verbindung besteht. Allgemein scheint Übereinstimmung zu herrschen, dass das der Grund ist, warum Mädchen sich umbringen."
In Masar-i-Scharif besuchen junge Männer und Frauen gemeinsam Vorlesungen, sie arbeiten in denselben Büros und können sich manchmal auch in gemischten Gruppen treffen. Internet und Mobiltelefonie erleichtern den Kontakt. In anderen Teilen Afghanistans ist ein solches Aufweichen der Geschlechtertrennung undenkbar.
Junge Frauen sind ihren Familien völlig ausgeliefert
Doch die unerbittlichen Regeln des Patriarchats gelten im Endeffekt auch hier, sagt Qazi Said Same, Chef der Menschenrechtskommission für Nordafghanistan.
"Wenn die Mädchen ein bestimmtes Alter erreichen, dürfen sie nicht mehr über ihre Zukunft mitreden. Das ist für viele sehr schwierig."
Auch im scheinbar liberalen Norden, auch angesichts einer Rechtslage, die ihnen Selbstbestimmung garantieren soll, sind junge Frauen ihren Familien immer noch völlig ausgeliefert.
Die meisten Väter glaubten eben nach wie vor, dass es völlig in Ordnung sei, über ihre Töchter zu verfügen, sie auch gegen deren Willen zu verheiraten, sagt die Menschenrechtlerin Heather Barr.
Dass ein Verfahren wegen Zwangsheirat angestrengt worden sei, hat Barr noch nie gehört. Dabei ist die Praxis seit 2009 ausdrücklich verboten.
Das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen stellt mehr als zwanzig Vergehen gegen Frauen unter Strafe, neben der Zwangsverheiratung beispielsweise Nötigung zur Prostitution, Vergewaltigung und Verweigerung des Rechts auf Bildung oder Berufstätigkeit.
In der Staatsanwaltschaft Masar-i-Scharif soll die Juristin Fausia Hamidy die Anwendung des Gesetzes beaufsichtigen.
Hamidy zeigt uns Fotos von Frauen, deren gewaltsamen Tod sie untersucht: erschlagen oder erwürgt, meist vom eigenen Mann. Aus Eifersucht oder weil das Opfer unfruchtbar und damit eine teure Belastung war oder einfach, weil die Frau zu widersprechen wagte.
Andere Bilder zeigen Verstümmelungen: Frauen ohne Nasen, Lippen, Ohren. Im ersten Halbjahr 2013 befasste Fausia Hamidy sich mit 85 Fällen von Gewalt gegen Frauen in der nördlichen Provinz Balkh. Auch sie selbst wird immer wieder bedroht, ihre Tätigkeit ist manchen offenbar ein Dorn im Auge.
Gewalt gegen Frauen: ein Drittel mehr Anzeigen
Personenschutz – Fehlanzeige, sagt die energische Frau. Stattdessen hat sie sich eine Pistole zugelegt, die sie stets in ihrer Handtasche mit sich führt – für alle Fälle. Benutzt hat sie die Waffe jedoch noch nie.
Die afghanischen Behörden verzeichneten letztes Jahr in knapp der Hälfte der Provinzen des Landes rund 650 Fälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, knapp ein Drittel mehr Anzeigen als im Jahr zuvor.
Der Anstieg ist paradoxerweise Anzeichen einer erfreulichen Entwicklung: Mehr und mehr Frauen wissen inzwischen über ihre Rechte Bescheid, vor allem weil ausländische Hilfswerke Informationsveranstaltungen finanzieren, und zeigen Gewaltakte deshalb an.
Doch das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen wird nur langsam und in wenigen Bereichen angewandt, sagt Heather Barr von Human Rights Watch:
"Fast ausschließlich häusliche Gewalt, vielleicht noch ein paar Vergewaltigungsfälle."
Ein Grund für die Zurückhaltung ist offenbar das Justizwesen. Nur selten folgen auf Anzeigen der Frauen auch juristische Konsequenzen für die Beschuldigten. Statistiken aus dem vergangenen Jahr belegen: Lediglich bei 20 Prozent der Anzeigen kam es zur Strafverfolgung. Nach Ansicht von Heather Barr, weil der politische Druck auf die Justiz fehlt.
Denn immer noch wird Gewalt gegen Frauen in Afghanistan geduldet, gar ausdrücklich gebilligt. Jahrhundertelang haben Patriarchen – Familienväter, Clanchefs, Mullahs – totale Kontrolle über Frauen ausgeübt.
Emanzipatorische Maßnahmen, etwa durch König Amanullah Anfang des 20. Jahrhunderts, stießen stets auf den Widerstand des religiösen Establishments und einflussreicher Stammesführer. Sie rechtfertigten ihre absolute Verfügungsgewalt über ihre Frauen und Töchter mit der Sharia und dem Stammesgesetz Paschtunwali.
Schätzungsweise 87 Prozent der Afghaninnen sind laut Vereinten Nationen Opfer körperlicher, seelischer, sexueller Gewalt. Nach Erfahrung von Fausia Hamidy von der Staatsanwaltschaft Masar-i-Scharif fehlt afghanischen Männern ganz einfach das Unrechtsbewusstsein:
"Die meisten Männer glauben, dass sie absolut berechtigt sind, sich an ihrer Frau zu vergehen, sie gar zu töten."
Manchmal wendet die Justiz sich gar gegen Frauen, die vor einem gewalttätigen Ehemann in eines der wenigen Frauenhäuser fliehen. Hamid Safwar leitet einen solchen Zufluchtsort in Masar-i-Scharif:
"Es kommt vor, dass die Frauen dann wegen sogenannter 'Verbrechen gegen die Ehre' verurteilt und inhaftiert werden. Afghanische Gerichte sind sehr konservativ. Sie machen keinen Unterschied, ob die Frauen vergewaltigt worden sind oder tatsächlich Ehebruch begangen haben. Das ist ein Problem."
Seine Organisation könne solche Fälle gewöhnlich jedoch im Einvernehmen mit der Justiz beilegen, versichert Safwar. Auch die familiären Konflikte, die Frauen zur Flucht ins Frauenhaus bewegten, würden meist mit Ehemann und Eltern gelöst. Wenn nicht, steckt das Opfer in einer Sackgasse.
Frauenrechte drohen sich nach dem NATO-Abzug in Nichts aufzulösen
Es ist unmöglich für eine Afghanin, sich unabhängig von der Familie eine eigene Existenz aufzubauen, sagt Hamid Safwars Mitarbeiterin Mobina Nazraty.
Immerhin lernen die Frauen in ihrer Organisation Lesen und Schreiben und werden in Handarbeiten ausgebildet, die ihnen ein eigenes Einkommen ermöglichen.
"Aber wir haben sehr viele Probleme in der Bevölkerung, unsere Bemühungen reichen nicht. Es muss viel mehr getan werden, um die Männer zum Umdenken zu bewegen."
"Wir machen uns Sorgen, große Sorgen, wie es weitergeht nach 2014."
Aktivisten wie Hamid Safwar und Mobina Nazraty befürchten, dass hart erkämpfte Frauenrechte sich nach dem Abzug der NATO und der damit einhergehenden Reduzierung ausländischer Aufbau- und Entwicklungshilfe in Nichts auflösen.
Die Gegner von Frauenrechten sind nämlich schon dabei, die Fortschritte zurückzurollen, die seit dem Ende des Taliban-Regimes erzielt worden sind.
Ein Beispiel hierfür ist die Frauenquote für Provinzräte. Die wollten einige Politiker abschaffen, was nicht gelang, allerdings sind künftig nur noch 20 Prozent der Räte weiblich statt wie bisher 25 Prozent.
Ein anderer Versuch betrifft das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Auch das sollte im letzten Jahr abgeschafft werden. Hier gab es keine Mehrheit – die fand sich allerdings für ein anderes Vorhaben: Gerade hat das Parlament einer Vorlage zugestimmt, wonach Verwandte nicht mehr zur Gewaltanwendung gegen Frauen aussagen dürfen. Da solche Taten fast ausschließlich innerhalb der Familie verübt werden, würde die Strafverfolgung damit de facto unmöglich. Eine weitere Vorlage verlangt das Verbot von Kinderehen aufzuweichen.
Für solche Regelungen machen sich vor allem religiös konservative Politiker stark. Gleich mehrere Kandidaten mit einer rückschrittlichen Sicht auf Frauen treten auch bei den Präsidentschaftswahlen an.
Das Ausland müsse einen langen Atem bewahren, sagt Heather Barr von Human Rights Watch, und sich über 2014 hinaus für die Rechte der Frauen in Afghanistan einzusetzen.
"In den letzten zwölf Jahren ist sehr viel erreicht worden und zwar wegen der afghanischen Aktivisten, mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Und diese Aktivisten sind immer noch hier, sie kämpfen weiter und sie brauchen diese Unterstützung immer noch."
Fausia Kofi, die Abgeordnete aus Badakhshan, schließt sich dem Plädoyer an:
"Unter dem Abzug werden vor allem die Frauen leiden und die Bürgerrechtler. Gegenwärtig müssen unsere führenden Politiker sich wenigstens noch vor der internationalen Gemeinschaft verantworten, die sie finanziert und politisch stützt. Aber wenn der Westen erst mal fort ist, fällt das weg. Dann können sie die Bürgerrechte ungestraft beschneiden, und zwar auch die von Frauen."
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