Affinity Konar: "Mischling"

"Das Ausmaß dieser Verbrechen ist unaussprechlich"

Überlebende Kinder im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau nach der Befreiung durch die sowjetische Armee
Unmenschliche Experimente: SS-Arzt Josef Mengele quälte im KZ Auschwitz auch Kinder. © imago/ITAR-TASS
Affinity Konar im Gespräch mit Joachim Scholl · 07.08.2017
Affinity Konar schildert in ihrem Roman "Mischling" das Schicksal von Zwillingsschwestern, die im KZ Auschwitz in die Fänge von Josef Mengele geraten. Um das Grauen darzustellen, habe sie versucht, so zu schreiben, dass der Leser die Geschichte gerade noch aushalte, sagt Konar.
Joachim Scholl: Die Schriftstellerin Affinity Konar ist Jahrgang 1978, in Kalifornien aufgewachsen, sie lebt in Los Angeles, im vergangenen Jahr wurde ihr zweiter Roman veröffentlicht, den die "New York Times" zu den wichtigsten der Saison zählte. In 30 Sprachen ist er mittlerweile übersetzt und auch auf Deutsch ist jetzt "Mischling" erschienen. So deutsch heißt das Buch auch im Original, und eine der Hauptfiguren ist ein Deutscher, einer der schlimmsten, die es je gegeben hat, Josef Mengele, und in seinem Labor der grausamsten Experimente in Auschwitz, dort spielt "Mischling". Guten Tag, welcome to Deutschlandfunk Kultur, Affinity Konar!
Affinity Konar: Thank you so much for having me today!
Die Schriftstellerin Affinity Konar im Interview mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Schriftstellerin Affinity Konar im Interview mit Deutschlandfunk Kultur.© Deutschlandradio – Laura Lucas
Scholl: Sie kommen gerade von einer Reise, Mrs. Konar, Sie waren in Auschwitz bei einer Tagung. Es ist nicht Ihr erster Besuch dort, jetzt sind Sie aber gewissermaßen mit dem fertigen Roman im Kopf hingefahren. Wie war das für Sie?
Konar: Ja, das ist schon ganz anders, jetzt mit dem Roman dorthin zu reisen, mit dem Roman im Kopf und mit dem veröffentlichten Roman. Denn als ich das erste Mal dort war, war er zwar schon fertig geschrieben, aber noch nicht veröffentlicht gewesen. Und jetzt ist es irgendwie als Erfahrung noch größer gewesen, denn jetzt habe ich auch diese Briefe bekommen von Leuten, die die Erfahrung gemacht haben selber mit dem Holocaust, deren Familienangehörigen dort umgekommen sind, Familiengeschichten und so weiter. Ich habe gehört, was die Leute erleiden mussten, was sie ertragen mussten. Und so ist es für mich jetzt als Erfahrung noch heftiger gewesen und es war auch sehr schwer, damit umzugehen. Aber es ist eine sehr wichtige Aktion, wenn man jetzt auch sieht, wie Gelehrte damit umgehen, wie Historiker damit umgehen, wie Überlebende mit diesem Thema umgehen. Und dieser ganze Bereich der Geschichte, jetzt sozusagen auch ein Teil davon zu werden durch dieses Buch und an dieser Konservation teilzunehmen, das ist etwas Wichtiges, und ich denke, es wird immer wichtig sein.
Scholl: Ihr Roman handelt von zwei polnischen Zwillingsmädchen, Perle und Stasia, die beiden erzählen wechselseitig in Ich-Form, was sie erleben in Auschwitz, wohin sie 1944 deportiert werden. Und gleich beim Eintreffen an der Rampe werden sie von Josef Mengele entdeckt, dem KZ-Arzt und in seinen Menschenkinderzoo eingeliefert. Wie sind Sie, Mrs. Konar, darauf gekommen, warum wollten Sie das als Roman beschreiben?

"Ich habe diese Ereignisse nicht mehr aus dem Kopf bekommen"

Konar: Das finde ich immer eine sehr schwierige Frage, es ist nicht leicht das zu beantworten. Denn ich habe das eigentlich nicht von Anfang an als Buch gesehen, dieses Thema. Das war eigentlich mehr eine Geschichte, die ich nicht vergessen konnte, die mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Ich habe von diesen Ereignissen gehört und ich habe sie einfach nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Das ging schon los, als ich von Lucette Lagnado "Children of the Flames" gelesen habe, in der genau dieses Thema behandelt wird, wo Berichte von Überlebenden von Mengeles menschlichem Zoo dargestellt werden, also wo Leute Zeugnis ablegen über das, was ihnen widerfahren ist. Und da ist mir besonders einer im Kopf geblieben, ein Junge namens Peter, ein jugoslawisches Kind, der geschrieben hatte, dass damals alle Kinder Taschenmesser bekommen hatten, um ihr Brot zu schneiden. Und wie er gesagt hat, sein Plan war es gewesen, dieses Messer überall, wo er konnte, an allen Gegenständen wo möglich zu schärfen, denn wenn einmal das Ende kommt, dann möchte er wenigstens einen Nazi mitnehmen in den Tod. Und das fand ich ziemlich unglaublich, diese Stimme der Rebellion von so einem Kind zu hören, das hat sehr viel in mir bewegt. Und ich habe mir diese Situation immer so lebendig vorgestellt, dass ich eine Konversation im Kopf hatte von Zwillingen, die versucht haben, dieser Situation, dieser Lage zu entrinnen. Diesen Dialog hat es so nicht wirklich gegeben, den habe ich mir einfach so vorgestellt. Und Jahre später habe ich dann angefangen, das aufzuschreiben. Und ich konnte auch nicht aufhören, zu diesem Thema zu lesen. Und schließlich ist dann tatsächlich ein Buch daraus geworden. Ich war eigentlich selber schockiert davon, ich kann auch kaum glauben, dass ich es wirklich zu Ende geschrieben habe.
Scholl: Ich gebe zu, Mrs. Konar, dass ich vor Ihrem Roman erst mal zurückgescheut bin, mich gefürchtet habe, man weiß ja, was Josef Mengele getan hat und zu welcher Grausamkeit dieser Mensch fähig war, allein von diesen Experimenten an Kindern zu lesen, ist schon grauenvoll, sie erst dann vorzustellen, geht im Grunde gar nicht. Wie sind Sie damit umgegangen, wie konnten Sie darüber schreiben?

So unerträglich wie möglich geschrieben

Der SS-Arzt Josef Mengele nahm im KZ Auschwitz an Häftlingen unmenschliche Experimente vor. So studierte er beispielsweise die Folgen von Unterernährung. In Block 6 des Stammlagers Auschwitz werden Fotos und Dokumente von diesen Verbrechen gezeigt.
Der SS-Arzt Josef Mengele nahm im KZ Auschwitz an Häftlingen unmenschliche Experimente vor. So studierte er beispielsweise die Folgen von Unterernährung. In Block 6 des Stammlagers Auschwitz werden Fotos und Dokumente von diesen Verbrechen gezeigt.© picture alliance / Frank Schumann
Konar: Es hat sich nie für mich so angefühlt, als ob ich es hätte anders machen können, das kann ich dazu machen. Also, ich habe wirklich versucht, andere Bücher zu schreiben, denn ich verarbeite die Dinge in meinem Leben durch Schreiben, so gehe ich damit um. Ich war ein sehr schüchternes, zurückgezogenes Kind und habe die Welt durch das Schreiben wahrgenommen und gesehen. Und wenn ich was anderes versucht habe zu schreiben, dann habe ich immer gemerkt: Nein, das ist es nicht, was ich schreiben möchte, was ich schreiben muss, was von mir geschrieben werden soll. Dieses Thema kam immer wieder hoch, es war wie so ein Drang, dass ich das schreiben musste. Und das ist merkwürdig, jetzt, wo es fertig ist, fällt es mir auch viel schwerer, mit den Fakten umzugehen, als vorher. Denn als ich im Prozess des Schreibens war, ist etwas mit mir passiert, indem ich das sozusagen aufschreiben musste, das Fühlen ein wenig verdrängt hat. Und ich verstehe jetzt, wenn Leute sagen, dass es schwer ist, das auszuhalten, dass es schwierig ist, das zu lesen, das zu ertragen. Und ich denke, es sollte auch so unerträglich geschrieben sein wie möglich, aber so, dass man es eben gerade noch lesen kann. Denn das Ausmaß dieser Verbrechen ist einfach unaussprechlich.
Scholl: Ihre Vorfahren kommen aus Polen, Mrs. Konar, sie sind in den frühen 1930er-Jahren ausgewandert, Ihre Vorfahren also, vor der Nazi-Okkupation, der Verfolgung. Wie anmaßend, wie vermessen kamen Sie sich denn selbst vor bei diesem Thema, als Nachgeborene, so weit entfernt Nachgeborene darüber, über dieses Thema zu schreiben?

Ein Gefühl von Vermessenheit

Konar: Dieses Gefühl der Vermessenheit kam erst, als das Buch schon veröffentlicht worden ist. Und ich hätte auch niemals schreiben können in der Absicht, es zu veröffentlichen. Also, wenn ich das von Anfang an gewusst hätte, dass das mal ein Buch werden soll, dass ich das veröffentlichen möchte und der Welt zum Lesen geben möchte, dann hätte ich es glaube ich gar nicht schreiben können. Dieses Gefühl kam also erst später, als das Buch bereits abgegeben war. Jetzt denke ich das aber dauernd, jetzt denke ich andauernd: Wer bin ich denn, dass ich das geschrieben habe, woher habe ich das Recht dazu, woher nehme ich das Recht dazu, so etwas zu schreiben? In meiner Familie haben wir kaum darüber gesprochen, wem oder was wir entkommen sind als Familie. Es gab zwar Bilder des Grauens, die in meinem Kopf waren, auch vonseiten meines Großvaters zum Beispiel, und ich habe mich mit dieser Thematik dann beschäftigt, aber es kam jetzt nicht so sehr von der Familie. Aber ich habe auch gemerkt, dass das vielleicht ein bisschen ungewöhnlich war für Menschen meines Alters, sich so sehr damit auseinanderzusetzen. Aber diese Risiken, dieses Buch zu schreiben, die habe ich so noch nicht gesehen, als ich angefangen habe damit. Das heißt, die ersten acht Jahre, die ich an diesem Buch geschrieben habe, hatte ich das so nicht im Kopf, die Fragen kamen erst später. Und dann bin ich aber noch mal zurückgegangen und habe mir sozusagen in einem Prozess noch mal die Entwürfe angeguckt – es gab ja drei Fassungen und es hatte ursprünglich über 500 Seiten –, aber diese Gedanken haben mir dann erlaubt, noch mal den Inhalt zu kanalisieren, zu raffen. Und dieses Gefühl der Vermessenheit hat das Buch schließlich zu dem werden lassen, was es jetzt ist.
Scholl: Onkel nennen die Kinder Stasia und Perle ihren Peiniger Josef Mengele, weil er ja so nett und gut zu ihnen ist. Er redet mit ihnen, tröstet sie, verteilt Bonbons. Und dann gießt er kochendes Wasser ins Ohr von Stasia, injiziert den Kindern Typhusbazillen, quält Babys im Mutterleib. An einer Stelle heißt es: In Auschwitz muss man nicht mal geboren sein, um gefoltert zu werden. Wie war das für Sie, Affinity Konar, einen solchen Sadisten, ein solches Monster zu schildern?

"Ich wollte diesem Kriminellen keinen Raum geben"

Konar: Es macht mir Schwierigkeiten, heute über ihn zu sprechen, und ich fand es auch sehr schwierig erst mal, herauszufinden, wie ich über ihn schreiben könnte, wie ich über ihn schreiben würde. Mir war bewusst, dass er ein notwendiges Element des Buches ist und dass er unbedingt darin einen Platz finden musste. Aber was Sie sagen, diese Vorstellung, ihn eben als einen auch charmanten Menschen zu beschreiben, die fand ich doch sehr verstörend und problematisch, denn ich wollte ihn auf keinen Fall vermenschlichen, ich wollte ihn nicht als etwas darstellen, was man verstehen könnte. Und ich hatte auch gar kein Interesse, ihn als Person zu verstehen. Ich wollte seine Verbrechen als die monströsen Verbrechen zeigen, die sie waren. Ich empfinde daran nichts Banales, gerade darin, mit was für einem Eifer er sein Ziel verfolgt hat, das fand ich wirklich sehr verstörend. Und auch diese Verantwortung, ihn schildern zu müssen, war sehr, sehr schwierig und erklärt vielleicht auch das extrem langsame Fortschreiten des Schreibprozesses. Ich habe extrem viele Szenen mit ihm gestrichen, sehr viel wieder rausgekürzt, und bin mir am Ende klargeworden, dass ich ihn einfach als den Verbrecher beschreiben muss, der er ist, seine Verbrechen beschreiben und ihn dann von der Bühne schubsen und den Mädchen den Raum geben, der ihnen zusteht. Sie sprechen lassen, sie das Zentrum des Buches werden lassen. Gerade wenn man sich seine Geschichte anguckt, dass er dann noch geflohen ist, nie wirklich zur Rechenschaft gezogen worden ist, im Exil gelebt hat und so weiter – ich wollte diesem Kriminellen keinen Raum geben. Und vielleicht ist das auch die beste Art, die Zwillinge zu würdigen.
Scholl: Ich habe länger überlegt, Mrs. Konar, wie man den Stil Ihres Buches charakterisieren könnte, und ich bin dann so auf das Wort "pararealistisch" gekommen. Also, die Grausamkeiten werden genannt, aber wie nebenbei, eingebettet in und verhüllt von einer Art Traumfantasie, Prosa, das die Mädchen sprechen. Es klingt manchmal zauberhaft, so im doppelten Sinn, die Sprache ist schön, der Gegenstand entsetzlich. Wie haben Sie diesen Stil, diesen Klang gefunden?
Konar: Ich denke, es liegt daran, dass meine erste Einführung in diese Art von Literatur mit Primo Levi und Paul Celan erfolgt ist. Und da ist einmal diese wirklich sehr klare, kristallklare Stimme von Primo Levi, die eines Wissenschaftlers, und auf der anderen Seite Paul Celan, der die Sprache verzerrt darstellt und ganz anders damit umgeht. Und diese beiden Figuren waren sozusagen meine Bezugspunkte, als ich an dieses Thema gedacht habe, als mir diese Geschichten immer durch den Kopf gingen. Ich bin nicht im Traum darauf gekommen, sie irgendwie nachzuahmen oder ihnen nachzuäffen, das würde ich mir nicht anmaßen, aber ich habe sie immer im Kopf gehabt, ich habe an sie gedacht. Und es gab ja auch bei mir diesen Konflikt, einmal diese wirklich verzweifelte Notwendigkeit, über dieses Thema zu sprechen, darüber zu schreiben, aber andererseits der Mangel an einer angemessenen, an einer passenden Sprache dafür. Also kam ich dazu, diesen Schleier über den Text zu legen. Besonders im Fall von Stasia, weil ihre Stimme das ganz besonders hat. Sie ist eine sehr dringliche einerseits, aber andererseits hat sie auch diese Maske, um das ertragen zu können, was ihr widerfährt. Und das sollte eigentlich nicht nur magisch wirken, es sollte eigentlich eher so zeigen, dass es notwendig ist, um diesen Horror aushalten zu können, um den Geist zu erhalten. Und mein Ziel war dabei, nicht Lyrik zu verfassen, sondern … Ja, mir fehlt ein besseres Wort … Ich kann es eigentlich nur "Maske" nennen, eine Maske, mit der sie durch diese Situation geht.
Scholl: Die US-amerikanische Schriftstellerin Affinity Konar hier im Deutschlandfunk Kultur in der "Lesart". Und "Mischling", ihr Roman, ist im Hanser Verlag erschienen, übertragen von Barbara Schaden, 361 Seiten der Umfang, 24 Euro der Preis. Unser Gespräch mit Affinity Konar hat Marei Ahmia übersetzt, auch ihr besten Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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