"Ästhetik des Vertrauens"

Winfried Junge im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 19.07.2010
Es ist die längste Filmdokumentation der Welt: Seit 1961 beobachtete Winfried Junge mit seiner Frau Barbara "Die Kinder von Golzow". Wichtig sei dabei das Vertrauen der Porträtierten gewesen. Die "Authentizität des Ganzen" überzeuge als "Kontrastprogramm zu all den sensationellen Dingen in den Massenmedien".
Klaus Pokatzky: Ein Lebenswerk ist jetzt zu würdigen, das es sogar ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft hat: Die Langzeitdokumentation der "Kinder von Golzow". Winfried Junge hat die Filmreihe 1961 mit der Einschulung der Kinder in dem Oderbruch-Dorf Golzow begonnen und sie erst vor drei Jahren, 2007, also 46 Jahre später beendet. Heute wird Winfried Junge 75 Jahre alt und ich begrüße ihn am Telefon. Herr Junge, einen ganz herzlichen Glückwunsch vom "Radiofeuilleton"!

Winfried Junge: Ja ich bedanke mich sehr, dass Deutschlandradio das bemerkt und etwas daraus macht! Vielen Dank dafür!

Pokatzky: Herr Junge, fast zwei Drittel Ihres Lebens haben Sie, unterstützt von Ihrer Frau Barbara, mit den Kindern von Golzow verbracht. Wie oft haben Sie von denen geträumt?

Junge: O Gott, das habe ich ja nun nicht aufgeschrieben, da habe ich keine Strichliste für! Nein, immer wenn Probleme anstanden, natürlich ging einem das durch den Kopf und dann hat man das besprochen mit meiner Frau, die ja nun lange schon an meiner Seite ist. Und da, weiß ich nicht, ich habe es immer versucht leichtzunehmen, obwohl vieles dann nicht so leicht war. Und bei Dokumentarfilmen gibt es ja nun manche Überraschung und da ist das immer die gewisse Furcht, wenn man dann zum Drehen gefahren ist: Was wirst du antreffen, geht das überhaupt, was du dir hier vorstellst? Und dann muss man umdenken und das hat schon immer ein bisschen nervös gemacht.

Ja, Träumen im guten Sinne natürlich, weil es eine wichtige Sache war von Anfang an, und die wurde mir immer wichtiger im Leben, das ist klar, und hat sich ja auch dann erwiesen. Dass wir dieses große Publikum übers Fernsehen kriegen, haben wir ja auch nie gedacht, als wir anfingen.

Pokatzky: Ja aber wenn ich mir vorstelle, Sie würden einen Dokumentarfilm über einen begrenzten Zeitraum machen genau so, wie wenn ich ein Porträt fürs Radio über einen Menschen mache: Schon da gibt es ja dann eine Nähe zumindest über einen bestimmten Zeitraum. Bei Ihnen war das über Jahrzehnte, Sie haben ja alles miterlebt, Schmerzen bis zu Krankheit und Tod hin. Wie hat da eine professionelle Distanz überhaupt funktioniert? Konnte die überhaupt funktionieren?

Junge: Na, ich glaube nicht, dass sie funktionieren konnte, und ich habe sie mir auch nicht abgerungen. Ich, also wir, muss ich ja sagen, Barbara und ich, wir leben nun Jahrzehnte mit diesen ehemaligen Kindern, die längst Kinder und Enkel haben, und ich bin schon der Meinung, dass also da eine Freundschaft und eine sachliche Freundschaft – man muss ja auch eine gewisse Distanz bewahren oder wenigstens versuchen, aber man kann es eigentlich nicht. Das erwarten die auch, dass man mehr macht als nur einen Film, dass man sich kennt, dass man zu Jugendweihen oder ja Hochzeiten, Geburtstagen zusammenkommt, sich gegenseitig einlädt. Und das ist eigentlich diese Ästhetik des Vertrauens, wie ich es mal nannte, die die wichtigste Basis und das wichtigste Kriterium für einen Dokumentarfilm dieser Art zumal ist.

Pokatzky: Wie schwer war das für Sie, sich von diesem Projekt zu verabschieden nach 46 Jahren?

Junge: Ja es war eigentlich nicht so schwer, weil wir das wirklich versucht haben, sachlich zu sehen. Das waren ja mal 26 Kinder, als die eingeschult wurden. Wir haben es tatsächlich geschafft, 18 durchs Leben zu begleiten mehr oder weniger kontinuierlich, und die Porträts sind länger oder kürzer, aber mit 18 haben wir eigentlich alles erzählt, was zu erzählen war, und wir haben nicht so sehr viel mehr Material von den Übriggebliebenen, sodass man da anknüpfen könnte, um auch noch zu versuchen, Kurzporträts zu machen.

Ich glaube schon, dass sich das Ende jetzt aus diesem Grunde schon ganz wichtig ergeben hatte, ich konnte also nicht sagen: Ich träume jetzt mal weiter. Dann hätte man überhaupt hinter dem Redaktionsschluss jedes Films dann auch sagen müssen, wir drehen weiter an der Geschichte, das Leben geht ja weiter, und können dann in zehn oder so und so viel Jahren schon wieder eine Fortsetzung drehen dieses Porträts. Das haben wir ja nicht gemacht und das hätte auch keiner mitgemacht.

Die Förderinstanzen und alle waren ja froh, wenn es hieß, also dieses Porträt ist abgeschlossen, jetzt haben wir nur noch so und so viel. Und dass wir es überhaupt schafften, 18 zu porträtieren – ich sage es noch mal, es waren die letzten zehn im Block in zwei langen Filmen unter dem Titel "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" –, das ist schon außerordentlich, dass das gelungen ist. Und dann, meine ich, kann man auch loslassen.

Pokatzky: Vor 1989 in der alten DDR gab es ja wohl mehr Zensurprobleme. Danach kam dann der Kapitalismus mit seinen finanziellen Problemen. Mit dem Erfolg Ihrer Filme – ist es im Lauf der Jahre für Sie einfacher geworden, Finanziers zu finden, oder blieb letztlich das Klinkenputzen immer das Gleiche?

Junge: Ich glaube, es blieb das Gleiche. Das hängt damit zusammen, dass man heute so nicht mehr arbeiten kann im Dokumentarfilm. Heute arbeitet man digital, das ist ein kleines Team, das kostet nicht viel Geld, das Material, das man da einsetzt, die Kassetten, die ganze Technologie ist eine viel billigere im Sinne von man muss nicht also Hunderttausende haben wie wir, wenn wir also hier einen 35-mm-Film weitergearbeitet haben, schon das Kopierwerk hat dann eine Menge gebraucht, um eine Filmkopie am Ende herzustellen.

Also all diese Vorgänge waren so teuer und wir haben es einfach nicht begreiflich machen können, dass wir dann eben auch das größere Geld kriegen müssen, so wie eben auch der Spielfilm das größere Geld zur Verfügung hat, da sind es die Gagen für die Schauspieler oder was weiß ich, die das teuer machen, oder bestimmte Szenen technischer Art. Bei uns ist es also eine Grenzproduktion mit zwei, drei Mann, Kameramann und Tonmeister noch und dann wir beide mal als Einheit.

Und das ist dann wirklich, vom Gehalt her ist das gar nicht viel, es ist tatsächlich nur, dass es auch von der Technologie immer sein Geld fordert, und ich habe ein Jahrzehnt lang überhaupt das nur weitermachen können, weil ich schon in der Rente war und hatte mein Geld und hab noch ein bisschen was dazubekommen. Aber im Prinzip war es nur so zu finanzieren.

Und das sind Dinge, die, meine ich, die gehören sich einfach nicht, wenn man begreift, was hier für eine Chronik entstanden ist und was sie wirklich gebraucht hätte. Sie hätte noch ganz was anderes werden können mit viel mehr Material, natürlich wären dann noch größere, längere Filme entstanden oder irgendwas hätte man machen müssen. Aber es ist ja auch ein Zeitdokument, man kann ja auch über das reden, was über die Filme hinaus verbleibt und was im Bundesarchiv nun archiviert wird. Und da, denke ich, hätten wir sehr viel reicher sein können, wenn wir ein bisschen mehr gepolstert gewesen wären finanziell.

Pokatzky: Ich spreche mit dem Dokumentarfilmer Winfried Junge zu seinem 75. Geburtstag über sein Lebenswerk "Die Kinder von Golzow". Herr Junge, sie haben mit altmodischen technischen Kameramitteln gearbeitet. – Bleibt die Ästhetik dieses Lebenswerks auch altmodisch oder eher zeitlos?

Junge: Na ja, das ist alles jetzt schwer, in kurzer Form zu beantworten. Ich meine, was heute das Fernsehen kann, die digitalen Effekte, Special Effects überhaupt, das kann der Dokumentarfilm, kann der 35-mm-Kinofilm überhaupt gar nicht. Wir haben eine sehr einfache Gestaltungsart, wir können mit dem Material nicht groß arbeiten, wir können nur durch Schnitt und Kommentar die Dinge verwesentlichen, wir setzen Musik dazu, wir bauen sehr auf dem Originalton auf und haben natürlich dann durch die Authentizität des Ganzen doch eine Wirkung erzeugt.

Das alles überzeugt ja, da gucken Leute, weil es Kontrastprogramm ist zu all den sensationellen Dingen in den Massenmedien, gucken Leute Leben, was sie was angeht, weil sie auch so ein Leben vielleicht geführt haben. Die Generation erkennt sich wieder und nicht nur diese. Und da bin ich ganz froh, dass die einfachste Gestaltungsform durchaus überzeugt, einfach weil sie – ich sage es noch mal – in einem Kontrast steht zu dem, was die Medien heute massenhaft hier verbreiten.

Pokatzky: Waren Sie in all diesen Jahrzehnten mehr ein Künstler oder ein Chronist?

Junge: Eindeutig ein Chronist. Also ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu dem, was man unter Kunst versteht, den Malern zumal. Aber ich muss auch, bei Spielfilmen muss ich auch sagen, es ist selten etwas, was mich sehr überzeugt. Ich überprüfe das immer an meinen Lebenserfahrungen und denke immer, geht die Geschichte oder geht sie eigentlich nicht nach meinen Erfahrungen. Ich meine, dass es also nur selten gelingt, mich in Spielfilmen und Fernsehfilmen zu überzeugen, dass ich daran glaube, dass das so hätte geschehen können und dass ich da also daraus etwas entnehme. Da ist es oft die Absicht, die mich von vornherein verstimmt.

Und wir sind sehr stolz, dass wir hier dem Leben seinen Lauf gelassen haben mit der dokumentaren Kamera über die Jahrzehnte, wir wussten auch nicht, als die uns im Kindergarten entgegenkamen, was wird denn aus denen? Und jede Hoffnung und jede Planung war eine Illusion, das Leben ist anders, erzählt die Dinge anders, aber auf eine Weise, wie es kein Drehbuchautor eigentlich schafft. Also ein Klischee ist in diesen Dingen nicht drin, jedes Leben ist anders. Und darum sind auch für mich viele erdachte Geschichten, das Fiktive überhaupt ein Problem.

Pokatzky: Danke, Winfried Junge, schönes Feiern noch zum 75. und zu diesem 75. Geburtstag ist das Lebenswerk des Dokumentarfilmers Winfried Junge, nämlich sind "Die Kinder von Golzow" als Gesamtausgabe in einer Box erschienen. Und in Golzow übrigens hören Sie das Deutschlandradio Kultur über die Frequenz 92,7.