Ärger um S-Bahnausbau in München

Angst vor dem Nahverkehrskollaps

09:13 Minuten
Eine Menschenmenge auf dem Bahnsteig der S-Bahn U4 in München
Totalausfall: Seit Jahren bricht auf Münchner Bahnsteigen das Chaos aus, wenn es auf der Stammstrecke mal wieder Probleme gibt. © imago stock&people
Von Michael Watzke · 09.07.2019
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Vorerst keine Beruhigung für den angespannten Münchner Nahverkehr: Zwei Jahre länger als geplant wird an der neuen S-Bahn-Stammstrecke gebaut, dem Nadelöhr durch die Stadt. Doch manch ältere Münchner befürchten: Die Vollendung werden sie nicht mehr erleben.
"Gleis 1: Einfahrt S2 nach Markt Schwaben über München-Ost. Vorsicht bei der Einfahrt!"
Die Münchner Stammstrecke, S-Bahnhof Marienplatz. Der am dichtesten befahrene Eisenbahntunnel Europas. Und laut Deutscher Bahn eine der meistgenutzten zweigleisigen Strecken weltweit. Die Stammstrecke unterquert München auf fünf Kilometern Länge von Ost nach West. In Stoßzeiten fährt hier alle zwei Minuten eine S-Bahn durch. In jede Richtung.
"Nächster Halt: Rosenheimer Platz. Ausstieg zum Gasteig."

Eine Million Reisende pro Tag

Jeden Tag fahren 1.000 Züge über die Münchner Stammstrecke. Sie befördern an Werktagen rund eine Million Reisende. Zum Beispiel die Medizin-Studentinnen Petra Höffner und Corinne Strepp.
- "Es sind vor allem die Stoßzeiten, wo man wirklich Haut an Haut steht."
- "Wenn man in die Uni muss, muss man halt über den Marienplatz. Und wenn da gar nichts geht, ist es schon sehr nervig."
- "Dass mehr Leute mit der S-Bahn fahren, ist derzeit gar nicht realisierbar. Man stelle sich vor, fünf Prozent weniger Menschen fahren Auto. Dann sitzen diese fünf Prozent in der S-Bahn? Die hält das zu den Stoßzeiten nicht mehr aus."

Störungen auf der Stammstrecke

Was die beiden Münchnerinnen besonders ärgert: Immer häufiger ist die Stammstrecke blockiert.
"Vor allem, dass so oft Störungen sind: Weichenstörungen, Oberleitungsschaden oder Ähnliches. Das ist unglaublich nervig, weil dann immer fünf Stunden gar nichts geht."
Die Stammstrecke ist das Nadelöhr des öffentlichen Nahverkehrs in München. Wer aus dem Umland in die Stadt pendelt oder von der einen auf die andere Seite Münchens möchte, muss durch dieses Nadelöhr. Und deshalb baut die Deutsche Bahn eine zweite Stammstrecke.
DB-Vorstand Richard Lutz sagt dazu: "Wir müssen das System jetzt so dimensionieren, dass es die Mobilitäts-Bedürfnisse der folgenden Generationen und der Menschen in dieser Landeshauptstadt und im Umland befriedigt."

Die Infrastruktur muss wachsen

Es werden Jahr für Jahr mehr Menschen. München wächst schneller als fast alle europäischen Metropolen. Als die Stadtväter Anfang der 60er-Jahre die erste Stammstrecke planten, hatte die bayerische Landeshauptstadt eine Million Einwohner. Jetzt sind es 1,5 Millionen – und in zwanzig Jahren könnten es nach vorsichtigen Prognosen 1,9 Millionen sein. Bayerns Verkehrsminister Hans Reichhart sagt:
"München und das Umland sind hochgeschossen von den Einwohnerzahlen. Die Infrastruktur hat sich nicht so weiterentwickelt. Deshalb brauchen wir mehr Angebot. Wir brauchen einfach mehr Schiene, um Züge raufzubringen."

3,2 Milliarden Euro für die zweite Stammstrecke

Deshalb sei die zweite Stammstrecke unumgänglich, sagt Reichhart. Und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann verteidigt die geplanten Kosten von derzeit 3,2 Milliarden Euro.
"Klar, das ist viel Geld – aber angesichts dessen, dass München sonst einen Verkehrs-Kollaps erleidet und wir auch die großen Probleme mit der Luftreinhaltung haben, sehe ich keine Alternative dazu, dass wir den öffentlichen Nahverkehr weiter ausbauen."
Den ÖPNV ausbauen – das wollen auch die Münchner Grünen. Allerdings sind sie gegen die zweite Stammstrecke, erklärt die Münchner Grünen-Vorsitzende Gudrun Lux:
"Wir Grüne hätten präferiert und präferieren nach wie vor, dass man erstmal schnell die Punkte angeht, wo schnell etwas erreicht werden kann. Wo schnell der Verkehr – gerade der öffentliche – entlastet werden kann. Sprich: Südring und Nordring."

Ein S-Bahn-Ring wie in Berlin

Ein oberirdischer S-Bahn-Ring um die Stadt München herum, so wie in Berlin, das schwebt den Grünen vor. Sie berufen sich auf Verkehrs-Experten wie Prof. Alain Thierstein von der Technischen Universität München.
"Jede zukunftsträchtige Stadt hat eine tangentiale Verbindungsstruktur für den ÖPNV. Das heißt, zwischen den sonnenstrahl-artigen Verbindungen gibt es eben wie bei Spinnennetzen Querverbindungen: die Tangenten. Und da ist der Nordring die zentrale Tangente auf der Nordseite der Stadt, die aktiviert werden muss."
Thiersteins Auffassung ist umstritten. Denn München ist keine Kiez-Stadt wie Berlin. Die bayerische Landeshauptstadt hat einen deutlichen Mittelpunkt, einen Stadtkern. Sie ist stark auf die Achse vom Marienplatz zum Hauptbahnhof ausgerichtet. Hier drängen sich Pendler und Touristen. Die zweite Stammstrecke soll diesen Ballungsraum entlasten. Sie verläuft parallel zur ersten Stammstrecke – aber ein Stück weiter nördlich, als eigene, zweigleisige Tunnelröhre. Wenn eine der beiden Röhren blockiert ist, funktioniert wenigstens noch die andere.
Die neue Strecke soll nur drei unterirdische Stationen haben - die S-Bahnen fahren dort also schneller. Durch moderne Gleis- und Signaltechnik sollen die Züge noch dichter hintereinander verkehren können. Das ist wichtig für die vielen Außenarme der S-Bahn-Linien. Denn im Münchner Umland fahren die Züge oft nur im 20-Minuten-Takt. Viel zu wenig, sagt etwa der Ebersberger Landrat Robert Niedergesäß:
"Ein großes Thema im gesamten Verbundrahmen sind bestehende Takt-Lücken zu verschiedenen Tageszeiten, die wir in einem Positionspapier aufgelistet haben. Diese Taktlücken zu schließen ist nach unserer Meinung kein Hexenwerk. Wir fordern auch einen 24-Stunden-Betrieb an den Wochenenden. Das ist zeitgemäß in einer Region wie München."

Bisher ist nicht viel passiert

Die Frage ist nur: wann wird die zweite Stammstrecke in Betrieb gehen? Erste Bauarbeiten begannen vor zwei Jahren. Aber viel ist bisher nicht passiert. Und weitere Sonderwünsche und –Pläne der Politik könnten das ganze Projekt noch weiter verteuern und verzögern. Erst vor wenigen Tagen verkündete Münchens SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter, dass sich die Fertigstellung der zweiten Stammstrecke um weitere zwei Jahre auf 2028 verzögern wird. Grund: die Stadt will nun noch eine weitere U-Bahn-Linie durchs Zentrum bauen. Die U9:
"Es geht einfach darum – und das wissen die Münchnerinnen und Münchner ganz genau – die Innenstadtlinien U3, U4, U5 und U6 zu entlasten. Der einzige Teil der Streckenführung, der für mich interessant war, war die Verzahnung mit dem Hauptbahnhof."

Der Hauptbahnhof ist eine Herausforderung

Ausgerechnet der Hauptbahnhof! Er ist schon jetzt ein dichtgedrängtes Knäuel aus Tunneln, Gängen und Rolltreppen. Dass die neue Stammstrecke und die U-Bahn-Linie 9 ebenfalls hier kreuzen sollen, macht den Bahnhof zu einer ingenieurstechnisch extremen Herausforderung. Manche Experten glauben, dass die zweite Stammstrecke erst in 15 Jahren fertig wird. Und wer am Bahnhof Marienplatz S-Bahn-Reisende befragt, erntet Kopfschütteln.
- "Ich glaube, dass ich in meinem Alter die zweite Stammstrecke nicht mehr erleben werde. Sie wird jetzt schon verschoben – und wird sicher ununterbrochen weiter verschoben. Ich denke, 25 Jahre. Dann bin ich hundert, dann ist es vorbei."
- "Warum, glauben Sie, verzögert es sich?"
- "Weil der Berliner Flughafen auch so lange dauert."

Angst vor Baustellenlärm

Bei der Münchner Stammstrecke könnten neben technischen Herausforderungen auch noch Bürgerproteste hinzukommen. Besonders in der Innenstadt, etwa im Viertel Haidhausen, sind viele Anwohner gegen das Projekt. Etwa Dorothea Wolff, die jahrelangen Baustellen-Lärm befürchtet:
"Ja, das ist natürlich ein Teilaspekt: dass hier Lastwagen rollen werden. Just durch diese Straße. Das wird sicherlich Lärm und Dreck mit sich bringen. Aber das würden wir noch in Kauf nehmen – wenn das Projekt in seiner Gesamtheit für uns Sinn machen würde."
Allerdings bestehen für die Stammstrecken-Gegner kaum mehr rechtliche Möglichkeiten. Das Baurecht gelte, sagt OB Dieter Reiter.
"Die Grundsatz-Entscheidung, dass wir diesen Tunnel bauen werden, die ist getroffen und wird nicht revidiert werden. Aber es gibt Möglichkeiten, den betroffenen Geschäften und Einzelhändlern vor Ort Vorschläge zu machen. Vielleicht kann man die Baustellen-Situation etwas entschärfen. Alles Fragen, die wir beantworten wollen."

Das Kulturzentrum wollte klagen

Bei aller Kompromiss-Bereitschaft: der Oberbürgermeister macht Druck. Als das stadteigene Kulturzentrum "Gasteig" gegen die Stammstrecke klagen wollte – aus Angst, der Baustellen-Lärm könnte die Klassik-Konzerte stören– da verbot OB Reiter die Klage. München will – anders als etwa Berlin – das Groß-Projekt möglichst zügig abschließen. Es soll weder an fehlendem Brandschutz scheitern noch an der Finanzierung. Sogar Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, CSU, macht die Stammstrecke zur Chefsache.
"Wir müssen einfach schauen, dass wir die Dinge nicht hin- und herschieben. Sondern gemeinschaftlich was auf die Reihe bekommen. Das ist der neue Ansatz: es nicht vertikal zu diskutieren, sondern horizontal zu vernetzen. Das wird noch eine ganz schöne Denksportaufgabe werden. ÖPNV ist schwieriger als gedacht."
Denksportaufgabe - das klingt, als bereite Söder die Öffentlichkeit schon jetzt auf mögliche Kostensteigerungen vor. Das derzeitige Budget für die zweite Stammstrecke von 3,2 Milliarden Euro hat schon heute vorsorglich einen Risikopuffer von 600 Millionen Euro. Am Ende werden für dieses gewaltige Projekt wohl auch 3,8 Milliarden Euro nicht reichen. Siehe Stuttgart21.
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