"Ängste entstehen dadurch, dass wir kaum miteinander kommunizieren"

Kübra Gümüsay im Gespräch mit Katrin Heise · 26.10.2011
Interkulturelle Kompetenz solle als ein Schulfach gelehrt werden, meint die Studentin der Politikwissenschaften Kübra Gümüsay. Man könne nicht erwarten, dass dadurch, dass man zusammenlebe, irgendwann diese Kompetenzen entstehen würden.
Katrin Heise: In unserer Serie zu 50 Jahren Anwerbeabkommen zwischen Deutschen und Türken interessieren wir uns heute Vormittag für die Gründe der Kontaktarmut zwischen Deutschen und Türken, und wir beginnen mal mit einem Beispiel: Johanna ist zehn und geht in die fünfte Klasse einer Grundschule in Berlin-Kreuzberg, zirka 75 Prozent beträgt der Anteil der Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund an ihrer Schule. Johannas Eltern sind aufgeschlossen gegenüber anderen Kulturen, und mit der bunten Mischung in ihrem Kiez hatten sie nie Probleme. Doch bald stellt sich heraus, dass es Johanna als deutsche Minderheit in ihrer Klasse schwer hat. Im Protokoll einer gescheiterten Kinderfreundschaft lässt Christiane Habermalz die deutsche Mutter zu Wort kommen:

Mutter: Na, in ihrer Klasse war außer ihr selbst noch ein anderes deutsches Mädchen, Johanna Nummer zwei, und sonst türkische, arabische Mädchen und fünf oder sechs deutsche Jungs. Also hatte sie eben ein deutsches Mädchen, sonst nur türkische, arabische, oder eben Jungsfreundschaften oder so. Und da haben wir natürlich festgestellt ziemlich bald, wie das auch im Kindergarten schon war, dass die Mischung nicht so ganz richtig funktioniert oder in der Schule und im Unterricht ganz schön ist, aber am Schultor irgendwie aufhört.

Ein Erfahrungsbericht war das aus Berlin-Kreuzberg, und jetzt begrüße ich Kübra Gümüsay, sie ist Studentin der Politikwissenschaften, zurzeit lebt sie in Oxford, sie unterhält eine Kolumne in der "taz" und den Internetblog ein-fremdwoerterbuch.com, ist für den Grimme Online Award nominiert, wuchs in einer religiösen, liberalen Familie in Hamburg-Altona auf und trägt selber ein Kopftuch. Schönen guten Tag, Frau Gümüsay!

Kübra Gümüsay: Schönen guten Tag!

Heise: Fangen wir mal mit dem Beispiel der eben gehörten gescheiterten Kinderfreundschaft an: Das Bemühen war ja da. Können Sie sich die Ablehnung erklären?

Gümüsay: Also Vorurteile bestehen nicht nur in der deutschen Gesellschaft gegenüber der türkischen Gemeinschaft in Deutschland, genauso auch andersherum. Wir alle leben ja mit lauter Vorurteilen, haben bestimmte Bilder über andere Menschen im Kopf, und nur so können wir überhaupt die Welt verstehen. Ohne Vorurteile würden wir wahrscheinlich an Reizüberflutung sterben. Das heißt, genauso haben auch türkische Einwanderer in Deutschland oder auch in der zweiten und dritten Generation noch Vorurteile gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft.

Heise: Welche sind denn das zum Beispiel?

Gümüsay: Ich habe mich mal mit Freunden darüber unterhalten, wie zu Hause die Gewohnheiten sind, was zum Beispiel Körperlichkeit angeht. Also es vollkommen normal dann, dass man einfach bei jemandem ... wenn ein Familienmitglied gerade duscht, in das Bad kommt und Mama und Papa nackt sieht. Das ginge in türkischen Familien zum Beispiel gar nicht.

Ich kann mich daran erinnern, wie ich auf einer Klassenreise war und dann abends wir Mädchen uns schlafen gelegt haben und dann plötzlich meine Lehrerin reinkam, weil sie noch mal nachschauen wollte, ob alle wirklich schlafen, und dann wirklich nur mit einem großen Shirt dastand und darunter nur eine Unterhose, und ich nur schockiert war, weil ich meine Lehrerin ja gar nicht so sehen wollte. Das heißt, wenn man zum Beispiel solche Geschichten hört, dann kann sich in weniger gebildeten Kreisen dann natürlich so etwas entwickeln wie Vorurteile, die sich dann erhärtet fühlen.

Heise: Das heißt, Sie würden sagen, es gibt eben tatsächlich auch so kulturelle Unterschiede, was Erziehung, was das familiäre Miteinander betrifft. Zum Beispiel, wenn wir mal ganz früh anfangen: Wie behütet wachsen türkische Kinder eigentlich auf?

Gümüsay: Also wirklich sehr, sehr behütet, das heißt, häufig schickt man Kinder sehr ungern weg. Es ist nicht nur so, dass sie ihre Kinder ungern zu deutschen Familien schicken, sondern auch sehr selten eigentlich zu anderen türkischen Familien und schon gar nicht zum Beispiel zum Übernachten.

Das kommt eher selten vor. Deshalb ist es sehr schwer, dann auf andere kulturelle Gewohnheiten wie zum Beispiel ... Also bei meinen Freundinnen war das sehr, sehr normal, dass die dann ihre Klamotten ausgetauscht haben, beieinander übernachtet haben, zusammen alleine Urlaub gemacht haben schon in sehr jungen Jahren, irgendwie mit 14 dann Mallorca oder nach Italien - das gibt es kulturell gesehen bei türkischen Familien eher selten.

Heise: Ich habe Ihre Eltern als religiös, aber liberal beschrieben. Wie viel Kontakt gab es zu deutschen Familien, Freunden bei Ihnen?

Gümüsay: Also meine Familie war sehr kontaktfreudig, besonders durch meinen Vater, der durch seine Geschäfte - er ist Geschäftsmann - natürlich dann halt mit sehr vielen verschiedenen Personen zu tun hat, das heißt, wir hatten auch oft viele Menschen aus anderen Ländern bei uns zu Hause, also jetzt nicht nur Deutsche, sondern auch aus vielen anderen Ländern. Deshalb gab es bei uns immer sehr viel Kontakt. Also für uns waren andere Kulturen nicht wirklich fremd.

Die deutsche Kultur war nicht so sehr fremd, deshalb gab es auch bei meinen Eltern wirklich wenig Ängste, denn man muss halt wirklich dazu sagen: Diese Ängste entstehen dadurch, dass wir kaum miteinander kommunizieren, dass wir kaum Kontakt zueinander haben. Und es ist nun mal so, dass wir wirklich in einer Gesellschaft leben, wo es viele, viele Parallelgesellschaften gibt. Wir wissen nicht, wie Superreiche leben, wir wissen nicht, wie Akademiker unter sich leben, wir wissen nicht, wie Hartz-IV-Empfänger unter sich leben, das heißt, es gibt soziale Unterschiede, kulturelle Unterschiede, wirtschaftliche Unterschiede, akademische Unterschiede, und dadurch, dass wir sehr wenig miteinander kommunizieren, entstehen Vorurteile, und mit den Vorurteilen auch viele Ängste. Daher entstehen solche Konflikte.

Heise: Mit der Bloggerin Kübra Gümüsay unterhalte ich mich über das Fremdheitsgefühl zwischen Deutschen und Türken. Frau Gümüsay, Sie haben eben den ganzen Kreislauf noch mal beschrieben. Sie haben auch erwähnt, dass Sie selber sich ja auch an solche Schockmomente erinnern konnten, und gleichzeitig haben Sie gesagt, das Kommunizieren fehlt eigentlich. Haben Sie mit Ihrer Familie oder auch mit der Lehrerin darüber gesprochen, dass Sie das sehr verwirrt hat, was Sie da erlebt haben?

Gümüsay: Nein. Es ist ja ein Luxus, über diese Dinge nachzudenken und sie zu reflektieren. Die wenigsten Menschen haben wirklich Zeit, und die wenigsten Menschen haben auch das Bewusstsein, zu verstehen, dass es kulturelle Unterschiede gibt. Meistens nehmen wir sie nur sehr einfach nebenher wahr und reflektieren gar nicht. Das heißt, ich habe viele Dinge wahrgenommen, die ich jetzt mit 23 noch mal reflektiere und überdenke und analysiere.

Heise: Gibt es eigentlich die Angst türkischer Eltern, dass sich die Kinder durch Kontakte mit der deutschen Kultur ihrer eigenen Religion, Tradition, ihrer eigenen Werte entfremden?

Gümüsay: Diese Angst gab es vor allem in der ersten Generation von Einwanderern, also türkischen Einwanderern in Deutschland, aber in der aktuellen Generation wächst eine Generation von jungen Menschen heran, die sich in Deutschland heimisch fühlen, die sich auch deutsch fühlen, aber sich nicht vollkommen von ihren kulturellen Werten entreißen lassen oder ihren religiösen Werten.

Heise: Das heißt, Ihre Generation würde dann beispielsweise eher die Kinder halt mit jedem spielen lassen und auch dort vielleicht übernachten lassen oder eben den Kontakt suchen?

Gümüsay: Ich denke, das wird viel weniger ein Problem sein. Selbstverständlich lösen sich Probleme nicht einfach so auf, das wird uns bestimmt noch zwei, drei Generationen kosten und auch Bemühungen beiderseits. Um mal ein Beispiel zu nennen: Also ich kann mich daran erinnern, dass ich als kleines Kind wirklich dachte, dadurch, dass wir später in einen sozialen Brennpunkt gezogen sind, wo dann auch eine bestimmte Schicht von Deutschen gelebt hat, dass ich dachte, ja, alle Deutschen laufen in Pyjamas herum, sind total schmutzig, haben alle irgendwie so riesengroße Hunde zu Hause und haben alle Vokuhilas, das heißt, ich hatte auch ein ganz spezielles Bild von Deutschen. Und es hat mich mehrere Jahre gekostet, einfach zu sehen, okay, ich habe bis dato nur eine bestimmte Art von Deutschen kennengelernt.

Heise: Wir haben ja das ganze Gespräch angefangen mit einer Situation in der Schule, Ähnliches kann man sich ja beispielsweise auch in Kindergärten oder so vorstellen. Jetzt will man ja eigentlich eben die Generationen, die nachwachsenden Generationen, es denen leichter machen. Hätten da nicht Institutionen wie Schule und Kindergarten auch eine gewisse Verpflichtung oder welche Mittel auch, diese Kommunikationsprobleme und diese Missverständnisse auszuräumen?

Gümüsay: Ja, ich denke, dass interkulturelle Kompetenz wirklich auch gelehrt werden muss. Man kann nicht erwarten, dass einfach dadurch, dass man zusammenlebt, irgendwann diese Kompetenzen entstehen, nein, man muss sie wirklich antrainieren. Ein einfaches Beispiel: ein Spiel, wo alle einen Zettel bekommen mit einer bestimmten Begrüßung aus einem bestimmten Land, und in diesem Spiel muss jeder diese Begrüßung vornehmen. Ich muss sozusagen jemandem nur zulächeln, und die andere Person muss aber mich umarmen - und einfach zu sehen, dass durch die verschiedenen Kulturen dort Konflikte entstehen können. Die andere Person will mir Zuneigung zeigen, indem sie mich umarmt, ich zeige Zuneigung, indem ich einfach mal nicke.

Und das ist ein sehr einfaches Beispiel, um kulturelle Unterschiede und die damit entstehenden Konflikte darzustellen. Solche Spiele zum Beispiel wären wunderbar für ein Fach wie interkulturelle Kompetenz, um das alles anzutrainieren.

Heise: Ideen von Kübra Gümüsay. Vielen Dank, Frau Gümüsay, für dieses Gespräch!

Gümüsay: Danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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