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Gesellschaft heute
Reißt das soziale Band?

Weltweite Flüchtlingswellen, Finanzkrise in Griechenland, große soziale und religiöse Unterschiede in Deutschland – droht das soziale Band zu zerreißen, wo keine Gemeinsamkeiten zwischen Einzelnen zu bestehen scheinen? Eine Fachtagung sollte jüngst Antworten finden.

Von Dörte Hinrichs | 02.04.2015
    Das Soziale Band - es wird viel beschworen in Sonntagsreden und Leitartikeln, angesichts von Europa-Skepsis, AfD oder Pegida - und immer wieder hört und liest man, dass es droht, sich aufzulösen. Doch was steckt eigentlich hinter dieser schillernden Metapher? Prof. Thomas Bedorf, Leiter des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Fernuni Hagen, hatte die Konferenz initiiert und versuchte, das so schwer greifbare soziale Band so zu fassen:
    "Häufig versteht man dann darunter beispielsweise Werte einer Gesellschaft oder die Inhalte des Glaubens einer Religion oder eine bestimmte Identität einer Nation, eines Volkes etc. Das wäre sozusagen eine substanzielle Auffassung. Und man könnte eine zweite Bedeutung ausmachen, die man das relationale Verständnis des sozialen Bandes nennen könnte, wo wir nicht mehr davon ausgehen, dass es etwas gibt, das um uns herum gegürtet ist, sondern dass das soziale Band das ist, was zwischen uns passiert. Das scheint mir die modernere und einzig anschlussfähige Auffassung zu sein, weil wir dadurch verzichten können, irgendwelche feststehenden Werte und Identitäten anzunehmen, und trotzdem darüber nachdenken können, was uns als Individuen in unserem sozialen Miteinander verbindet."
    Es sind demnach nicht mehr die großen abstrakten Prinzipien, die wirken, zum Beispiel die Idee Europa oder die Werte der Aufklärung, die dann das soziale Band erzeugen, meint auch der Hagener Soziologe Prof. Frank Hillebrandt. Das soziale Band basiert vielmehr auf den Beziehungen zwischen Menschen, beispielsweise auf Tauschbeziehungen.
    "Es war so, dass in der Soziologie immer der Eindruck erweckt wurde, in der frühen Soziologie, dass eben ökonomische Tauschprozesse im Prinzip das soziale Band beschädigen, das soziale Band auflösen, weil sie eben so unpersönlich sind, weil sie eben bestimmte sachliche Aspekte in den Vordergrund rücken und die persönlichen Aspekte der Tauschenden dann einfach keine Rolle mehr spielen. Und die These, die ich hier auf der Tagung vertreten habe ist, dass genau das nicht stimmt. Sondern dass eben genau diese ökonomischen Tauschprozesse dazu führen, dass es neue Beziehungen gibt, und dass eben auch schon ein Warentausch, wo es eben darum geht, dass bestimmet Güter für Geld getauscht werden, immer schon eine gewisse Bindungskraft mit sich bringt, die dann tatsächlich auch dauerhaft sein kann."
    Das zeigt sich auch bei den derzeit boomenden Tauschbörsen, wo Menschen kein Geld, sondern Talente und Dienstleistungen ins Spiel bringen und dadurch neue soziale Austauschprozesse entstehen. Aber auch in klassischen langjährigen Geschäftsbeziehungen, selbst in zeitlich befristeten Projektarbeitsformen sei ein gewisser Grad an Verlässlichkeit unabdingbar, der auch zu Bindungseffekten führe, so Frank Hillebrandt. Außerdem würden die veränderten Arbeitsprozesse es mit sich bringen, dass der Einzelne sich immer öfter als ganze Person einbringen und sich breit vernetzen müsse, um ein Produkt herzustellen oder eine Dienstleistung anzubieten.
    Das sieht der Jenaer Soziologe Prof. Hartmut Rosa durchaus kritisch, der den Begriff der zwischenmenschlichen Resonanzbeziehungen in die Diskussion einführte, die seiner Ansicht nach in der beschleunigten Moderne oft auf der Strecke bleiben. Denn:
    "Sie müssen sich permanent optimieren, um ihren Status, ihren Platz in der Welt zu erhalten und das ist eine erzwungene Welthaltung, die ich als dispositionale Entfremdung bezeichne, insbesondere auch deshalb, weil wir Dinge sofort verfügbar machen und kontrollierbar machen wollen und Resonanzbeziehungen kann man nicht vollständig kontrolliert herstellen, sie enthalten immer einen Moment der Unverfügbarkeit."
    Doch was sind das für Beziehungen, die ähnlich wie ein musikalischer Klangkörper Resonanz zwischen Menschen bewirken und möglicherweise ein soziales Band stiften können?
    "So ein soziales Band besteht dort, wo Menschen auf eine spezifische Weise aufeinander bezogen sind und dazu gehört einerseits das Interesse am anderen, dass der mir nicht gleichgültig ist und dass er mir auch nicht nur feindlich gegenübersteht, sondern dass ich ein intrinsisches Interesse an ihm habe und dass ich aber gleichzeitig die Erwartung habe, dass ich ihn oder sie auch zu erreichen vermag, sodass zwischen uns sich so etwas wie eine Austauschbeziehung herstellt. So etwas wie eine Art dialogische Antwortbeziehung, die ich versuche als Resonanzbeziehung zu beschreiben. Also da wo Menschen sich so begegnen, dass sie bereit sind, sich zu öffnen, aneinander Anteil nehmen, also sich wechselseitig erreichen, dort kann man davon ausgehen, dass so eine Art Soziales Band existiert und da wo wir uns nur funktional begegnen, da besteht es dann eben nicht."
    Es gilt also, genau hinzusehen, was die Qualität eines echten sozialen Bandes ausmacht: Unter welchen Voraussetzungen es entstehen kann und wo es nur vermeintlich eine gesellschaftliche Bindungskraft und politische Wirksamkeit erzeugt.
    "Also was man feststellt ist, dass tatsächlich neue Formen der Verbindung entstehen, also von mir aus die Pegida-Demonstrationen, also es wird an dem Punkt auch oft die Arabellion ins Gespräch gebracht, also der arabische Frühling, wo man gesehen hat, dass ganz schnell und manchmal auch überraschend große Menschenmengen zusammenkommen und auch zusammen handeln können. Ich sehe da allerdings ein gewisses Problem darin, dass auf diese Weise vor allen Dingen Protest hörbar gemacht werden kann. Also man kann ganz schnell Empörungswellen erzeugen mithilfe sozialer Medien, vor allem durch die hohe Geschwindigkeit der Vernetzung. Aber das Problem ist, dass dadurch sich keine neuen Resonanzbeziehungen einstellen."
    Zwei negative Begleiterscheinungen sieht Hartmut Rosa in dieser Art des Protestes: Zum einen gelingt es den Protestierenden oft nicht, daraus konstruktiv Politik zu formen und Selbstwirksamkeit zu erfahren, so der Jenaer Soziologe.
    "Und noch bedenklicher wird es dort, wo das, was sich da als Einheit konstituiert im Prinzip mit Resonanzverlust gegenüber allem anderen einhergeht, also mit einer Ablehnung gegenüber allem Fremden oder gegenüber allem, was nicht so ist, wie man selber ist. Da etabliert sich nicht eine neue Resonanzsphäre der Politik, sondern das Gegenteil. Ich nenne es eine Echokammer, wo man ganz schnell ein riesiges Echo auf einen Empörungsruf erhält, aber der grenzt alles aus, was nicht dazu gehört und schafft es auch nicht, selber gestalterisch wirksam zu werden, sodass diese neuen Formen politischer Äußerungen ambivalent sind."
    Der gemeinsame Feind eint – doch das allein scheint noch kein tragendes soziales Band zu sein. Rosa diagnostiziert eine Resonanzkrise, die auch eine Demokratiekrise sei. Es reiche nicht, alle vier Jahre seine Stimme bei der Bundestagswahl abzugeben, vielmehr gehe es darum, die eigene Stimme hörbar zu machen, anderen zuzuhören und in einen Dialog einzutreten. Widerspruch und Widerrede seien dabei durchaus erwünscht. Hieran knüpfte auch die Argumentation von Thomas Bedorf an, denn nicht in der völligen Übereinstimmung - das zeigte eindrucksvoll auch die Hagener Konferenz - vielmehr im Streit sieht der Prof. für Philosophie vor allem ein verbindendes Element.
    "Ich denke, wir sollten keine Angst vor dem Konflikt haben, vielleicht ist das auch eine deutsche Besonderheit, ein Spezifikum unserer politischen Kultur, den Streit für etwas zu halten, dem wir lieber nicht nachgeben, also der politischen Klasse wird häufig dann die Zustimmung verweigert, wenn sie als zerstritten wahrgenommen wird. Dabei ist es vielleicht umgekehrt: So lange wir uns miteinander und durchaus auch gegeneinander konfrontieren, um die richtige Auslegung dessen, wie wir unser Gemeinwesen in Zukunft gestalten wollen – ist der Streit nicht zwangsweise ein Symptom einer Krise, sondern durchaus auch eine Bestätigung der Praxis des sozialen Bandes."