Freitag, 19. April 2024

Archiv

Islamismus
"Koloniale Vergangenheit spielt eine wichtige Rolle"

An der Universität Mainz fand die Tagung "Der Vormarsch der Gotteskrieger in der islamischen Welt" statt. Der Tagungsleiter Günter Meyer sagte im DLF, dass Islamismus häufig auf irgendeiner Form des Widerstandes gegen Unterdrückung, Verfolgung oder Machtpositionen basiere. Auch die koloniale Vergangenheit spiele eine wichtige Rolle.

Günter Meyer im Gespräch mit Michael Köhler | 11.01.2015
    Das Wort Islamismus in einem Lexikon markiert.
    "Islamismus hat eine gemeinsame Wurzel im Koran und in der Auslegung des Korans", sagt Professor Günter Meyer. (imago/Christian Ohde)
    Michael Köhler: Was sind eigentlich die Ursachen für Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Ausbreitung des islamistischen Extremismus von Südostasien bis Irak, von Syrien bis Nigeria, bis zu Boko Haram? Das war die leitende Frage einer Tagung an der Universität Mainz unter dem Titel "Der Vormarsch der Gotteskrieger in der islamischen Welt". Und deren Leiter, Professor Günter Meyer, habe ich gefragt: Was eint eigentlich diese sehr unterschiedlichen Länder darin? Gibt es gemeinsame Wurzeln, oder geht das gar nicht?
    Günter Meyer: Das geht durchaus, denn dieser islamische Extremismus, der Islamismus, von dem wir hier sprechen, hat natürlich eine gemeinsame Wurzel im Koran und in der Auslegung des Korans. Das heißt, diese Auslegung, die wortwörtliche Auslegung ist die gemeinsame Basis, und die unterschiedlichen islamistischen Gruppen haben insofern etwas gemeinsam, dass sie sagen, wir befolgen den wahren Islam, so wie er buchstabengetreu im Koran abgedruckt ist, und alle anderen, die diese Auffassung nicht vertreten, das sind Ungläubige, auch wenn sie sich als Muslime bezeichnen, und die gilt es, zu bekämpfen.
    Köhler: Nun ist unser Thema nicht die fehlgeleitete Lektüre des Korans. Da gibt es ja auch viele, die sagen, das ist alles sehr einseitig, unhistorisch, und es gibt auch ganz andere Stimmen. Unsere Frage ist ja: Warum gedeiht das gewissermaßen in manchen Staaten ganz besonders gut. In welchen gedeiht das besonders gut aus welchen Gründen?
    Meyer: Da gibt es sehr unterschiedliche Gründe. In den meisten Fällen basiert der Islamismus auf irgendeiner Form des Widerstandes gegen Unterdrückung, gegen Verfolgung, oder gegen Machtpositionen beispielsweise von christlichen Gruppierungen, oder aber gerade auch vonseiten des Westens. Die koloniale Vergangenheit spielt eine wichtige Rolle. Die USA, die NATO spielen heute eine entscheidende Rolle. Dagegen will man sich wehren, gegen solche Einflussnahmen.
    Jemen als gescheiterter Staat
    Köhler: Warum kann ein Land wie Jemen eine Art Zentrallager für islamistischen Extremismus werden?
    Meyer: Jemen ist das, was wir durchaus auch als einen gescheiterten Staat ansehen können.
    Köhler: Also die Failing States?
    Meyer: Die Failing States dort, wo wir ein Machtvakuum haben, dort, wo die staatlichen Autoritäten nicht vorhanden sind. Gerade der Jemen gehört mit zu Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel. Wenn wir uns andere gescheiterte Gebiete ohne staatliche Autorität anschauen, dann sind wir bei dem Al-Kaida-Kerngebiet in den Nordwest-Territorien von Afghanistan. Oder jetzt Libyen - nach dem Sturz Gaddafis entwickelt sich, oder hat sich bereits zu einem gescheiterter Staat entwickelt. Die Islamisten breiten sich rasant aus. Das heißt, wir haben hier ein enormes Gefährdungspotenzial unmittelbar vor den Toren von Europa, ein Bedrohungspotenzial für die gesamte westliche Welt auch mit entsprechenden Ausbildungslagern. Der islamische Staat hat hier bereits eine eigene Provinz ausgerufen.
    "Die muslimische Bevölkerung in Frankreich ist so groß wie in keinem anderen europäischen Land"
    Köhler: Nun weiß man, dass Pakistan und Nigeria einen gewissen Nährboden dafür bieten. Die Aktualität der Stunde muss jetzt zu der Frage einfach führen: Wie konnte sich das in Paris so schnell so massiv ausbreiten?
    Meyer: Nun, die muslimische Bevölkerung in Frankreich ist so groß wie in keinem anderen europäischen Land. Es gibt keine offiziellen Zählungen, aber man geht von Schätzungen aus, wonach etwa sechs bis sieben Millionen Muslime vor allem aus den ehemaligen französischen Kolonien ins Land gekommen sind, oder in der Zwischenzeit in zweiter oder dritter Generation dort geboren worden sind. Ein wesentlicher Faktor für die Radikalisierung der Muslime gerade in Frankreich besteht darin, dass Frankreich den Saudis mit ihrer wahabitischen oder salafistischen Lehre Tür und Tor geöffnet hat. Saudi-Arabien versucht, seinen Einfluss weltweit in allen sunnitischen Gebieten auch in der Diaspora auszudehnen. Die Finanzierung von Saudi-Arabien, um einen orthodoxen, dogmatischen Islam gerade auch in Frankreich zu verbreiten, hat dazu geführt, dass nicht nur Moscheen errichtet werden, nicht nur Imame hier von Saudi-Arabien bezahlt werden, Koran-Schulen von saudisch bezahlten Imamen durchgeführt werden, sondern dass mittlerweile die salafistische Auslegung des Islam, angetrieben durch Saudi-Arabien, eindeutig den Islam in Frankreich dominiert und damit eben ein erhebliches Bedrohungspotenzial darstellt.
    Köhler: Sagt Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.