Adipositaszentrum Berchtesgarden

Begleitet abnehmen

Personenwaage
Beim Kampf gegen Übergewicht kommen viele Faktoren zusammen. © dpa/lby/Armin Weigel
Von Caroline Kuban · 20.03.2018
Gegen starkes Übergewicht hilft eine Ernährungsumstellung alleine nicht viel. Das CJD-Adipositaszentrum in Berchtesgaden bietet seinen jugendlichen Patienten deshalb auch Sporttherapie und sogar Ausbildungsplätze an – das Ziel: eine Lebensstiländerung.
Der Weg ist lang und kostet einigen Schweiß. Zweimal die Woche eine gute Stunde zu Fuß über den Berg. Dreieinhalb Kilometer führt der steinige Pfad von der Klinikanlage auf der Buchenhöhe bis hin zum Wohnhaus in Oberau. Da braucht man die richtige Technik.
Maximilian Zettel hat seinen Wanderstock bei längeren Touren immer dabei. Damit geht es leichter, sagt der 18-Jährige:
"Kleine Schritte hoch den Berg, und den Stock eher dichter her, weil da kann man ihn besser ranziehen an sich, und mal Pause machen, ich mach das immer: ein Balken zum anderen Balken, und dann kann man sich auf eine Bank hocken und 2 Minuten entspannen, und dann kann man weiter."
Noch vor einem Jahr sei er den Berg überhaupt nicht hochgekommen. 170 Kilo hatte er damals und wenig Selbstvertrauen.
Maximilian Zettel: "Ich bin ein Frust- und Trauerfresser. Also wenn ich deprimiert bin, sauer oder so, dann beschäftige ich mich mit Essen oder suche mir, was ich machen kann. Aber meistens ist Essen leichter, kannst du in jedes Geschäft gehen und dir was holen."

"Fünf Tage Mampfen, die anderen durchgepennt"

Schwarze Baumwoll-Jogginghose, weites gemustertes T-Shirt, Turnschuhe. Auf dem Kopf ein Cappy der Chicago Bulls, im linken Ohr ein silberner Stecker. Die schwarze Kapuzenjacke zünftig um den Bauch gebunden, stützt sich Max mit beiden Händen auf seinen Wanderstock und atmet tief durch.
Wenn er von seiner Vergangenheit spricht, verdüstert sich sein Gesicht. Die Augen schweifen unruhig ab. In Max' Familie war Übergewicht immer ein Thema, aber dramatisch wurde es erst, als er seine Großeltern verlor. Zu ihnen hatte er eine intensive Bindung. Als er zwölf war, starb die Oma, drei Jahre später der Opa.
"Das ist ganz schön an die Substanz gegangen, und dann ist es so gewesen, dass ich auf nichts Bock hatte, außer schlafen, essen, WC und Computerspiele. Und während man spielt, registriert man ja nicht, was man sich alles reinstopft. Ich hatte eine Chipspackung in 20 Minuten weg und hab mir gedacht: So viel hab ich eigentlich nicht gegessen, hol mir das nächste, Gummibärchen, und dann immer weiter. Eigentlich war ich nur 24 Stunden fünf Tage in der Woche am Mampfen. Die anderen 2 Tage hab ich beinah durchgepennt."
Als er nach dem Schulabschluss mit 16 Jahren fast 200 Kilo auf die Waage brachte und sich nur noch zwischen Bett und Badezimmer bewegte, war klar: Es muss etwas passieren. Dreiwöchige Kuraufenthalte brachten nur kurzfristig Erfolge. Das Arbeitsamt in seinem Heimatort genehmigte schließlich eine Langzeitmaßnahme beim Christlichen Jugenddorfwerk Deutschland, kurz CJD, in Berchtesgaden.

Von 6XL auf 3XL

In traumhafter Lage, umgeben von Wiesen und Wäldern mit direktem Blick auf den Watzmann liegt das Wohnhaus des CJD im beschaulichen Oberau. 30 Adipositas-Patienten teilen sich die Zimmer dieses typisch bayrischen Landhauses. Die jüngsten sind zwischen neun und 14 Jahre alt, die ältesten über 18.
Die Schlafräume liegen im ersten Stock. Max steigt die Treppe hoch. Er teilt sich ein Zimmer mit dem gleichaltrigen Florian. Ein guter Kumpel, meint Max. An der fast leeren Pinnwand über seinem Bett bewegt sich ein Traumfänger im Luftzug. Max öffnet die Tür von seinem Kleiderschrank, holt ein riesiges, fast tischtuchgroßes, rotes T-Shirt heraus, faltet es auseinander:
Maximilian Zettel: "Das ist ein 6XL, das ist Konfektionsgröße 67/68, ich nehm es für den Sport her immer noch, weil man hat dann bessere Bewegungsfreiheit."
Ansonsten trägt er mittlerweile drei Nummern kleiner, Größe 3XL.
Maximilian Zettel: "Manchmal gibt’s hier Kontrollen, da müssen wir den ganzen Schrank ausräumen. Die machen ja auch Taschenkontrollen und so, das ist eigentlich ganz normal. Wenn man unten im Markt gewesen ist, muss man vorher zum Betreuer, bevor man aufs Zimmer geht. Sonst wird man verdächtigt, dass man irgendwas reingeschmuggelt hat, z.B. fünf Snickers, ein ganzes Pack Multivitaminsaft oder fünf Kilo Schokolade."
Max brauchte nicht lange, um sich einzugewöhnen. Die Kontrollen hat er akzeptiert. Denn er sieht seine Betreuer vor allem als Helfer und nicht als Gegner. Und ohne Regeln, weiß er, geht es eben nicht: Auf den Zimmern sind Lebensmittel verboten. Süßigkeiten liegen verschlossen im Büro und werden in kleinen Mengen einmal täglich zugeteilt. Die Küche ist immer abgeschlossen. Regelmäßige Mahlzeiten sind ebenso wichtig wie das gemeinsame Kochen mit der Diätassistentin zweimal die Woche. Zu Trinken gibt es nur Wasser und ungesüßte Tees.
Das Ergebnis all der Anstrengungen überprüft Max jeden Samstag. Dann geht er in den Behandlungsraum und stellt sich dort auf die Waage.

Auch Sport ist wichtig

Doris Gerber ist die Leiterin des CJD Oberau Berchtesgaden. Ihre Ansprache ist grundsätzlich positiv. Max ist es schon lange nicht mehr peinlich, was er auf die Waage bringt.
Doris Gerber: "Ich erinnere mich so an die Anfangszeit, da hat der Max sehr oft geweint, bei der kleinsten Kleinigkeit. Also wenn ich ihn unten aus dem Büro raufgeschickt habe, jetzt hol doch bitte deine Jacke, du bist viel zu dünn angezogen, dann war dieser Weg in den ersten Stock für ihn so anstrengend, dass er dann geweint hat. Das waren so die allerersten Momente, an die wir uns mit dem Max unheimlich gut erinnern alle."
Neben der richtigen Ernährung ist Sport ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Fünf Stunden Training die Woche gehören zum Pflichtprogramm. Eine wichtige Motivation dabei ist die Gruppe. Wer sich für einen Kurs einschreibt, muss auch teilnehmen. Fehlen darf man nur mit ärztlichem Attest. Motivation erreicht man auch dadurch, dass man sich besonders schöne Ziele setzt, sagt Doris Gerber.
"Da geht es darum, wer darf Skifahren lernen, wer darf Snowboarden lernen; das dürfen nur die, die muskulär sich entsprechend vorbereitet haben, die wirklich ihr Sportstundenpensum erfüllt haben, und dann auch in der Lage sind, sich auf die Bretter zu stellen. Das ist zum Beispiel eine Motivation jetzt ordentlich zuzulegen."

An Sport müssen die Jugendlichen herangeführt werden

Am Abend macht sich Max auf zum Schwimmen. Sein Lieblingssport. Denn im Wasser fühlt er sich leichter, sagt der 18-Jährige, und außerdem schont es die Gelenke. Zusammen mit fünf anderen Jugendlichen gleitet er mit langen Armbewegungen durch das Wasser.
Am Beckenrand steht in Trainingshose und T-Shirt Sporttherapeut Thorsten Putz. Lächelnd beobachtet er die Gruppe. Spielerische Übungen kommen bei den jungen Menschen immer gut an, meint Putz. Kleine sportliche Wettbewerbe, Aquafitness, Wasserball. Gerade am Anfang der Langzeittherapie ist es wichtig, die Patienten nicht zu überfordern.
Thorsten Putz: "Der Weg ist sehr schwer, weil die Kinder und Jugendlichen den Sport oder die Bewegung überhaupt nicht gewohnt sind. Wir müssen es langsam, spielerisch beginnen, viel bewegten Alltag einbauen, die Sporteinheiten langsam koordiniert aufbauen, mit System, langsam und ruhig das Ganze steigern."
Bewegter Alltag, das heißt: zu Fuß gehen von der Bushaltestelle nach Hause, zweimal die Woche eine Stunde wandern von der Klinik zum Wohnhaus, Treppensteigen, Fahrradfahren. Als Höhepunkt: Hüttentouren oder Schnee-Abenteuer in den Bergen.

Ausbildungsbedingungen wie in anderen Betrieben

Aber nicht nur die Therapie ist wichtig für Adipositas-Patienten. Um eine langfristige und dauerhafte Lebensumstellung hinzubekommen, braucht es eine abgeschlossene Ausbildung. Davon ist Gerd Schauerte, Chefarzt des CJD Berchtesgaden, überzeugt.
Für stark übergewichtige Menschen ist es nahezu unmöglich, auf normalem Wege eine Lehrstelle zu bekommen, sagt er. Allein acht Stunden stehen zu müssen, sei für viele gar nicht machbar. Die Belastung, physisch wie psychisch, sei einfach zu groß.
Gerd Schauerte: "Wir brauchen in der Regel für eine Lebensstiländerung bei unseren speziellen Patienten deutlich länger, als das im Normalfall der Fall ist, und deshalb ist eine Ausbildung ein klar umrissener Zeitraum, wo man sagen kann: so, da entwickelt sich dann eine Verantwortung für mich selbst, für mich als Patienten, für mich als Menschen, und ich seh auch die Möglichkeiten dieser Einrichtung."
Max ist seit eineinhalb Jahren engagiert dabei. Sein erster Versuch, sich in der Metallbranche ausbilden zu lassen, war nicht das Richtige für ihn. Dafür scheint der zweite Anlauf zu klappen: Seit September ist er glücklich in seiner Ausbildung zum Beikoch.
"Ich hab schon früher immer gern zugeschaut beim Kochen. Ich hatte schon die Leidenschaft, gern zu kochen. Meine Oma hat mich da unterstützt, und dann bin ich eben auf Kochen gekommen, weil ich Menschen Freude machen möchte, dass sie sich nicht elend fühlen, wenn ihr Magen knurrt.", sagt Max.
Am nächsten Morgen in der Küche der CJD Christopherusschule Berchtesgaden. Um 11 Uhr sind die Vorbereitungen fürs Mittagessen nahezu abgeschlossen. Auf dem Herd brodelt Knoblauchsuppe, das Rindergeschnetzelte steht in riesigen Pfannen bereit, neben Nudeln und Reis in hohen Töpfen. Was noch fehlt, ist der Salat.

Ausbildung mit gewissen Vorzügen

Max steht in weißer Kochjacke, Kochhose und Schuhen mit Stahlkappen vor der Arbeitsfläche und schneidet gewissenhaft grüne Gurken in Stifte und rote Paprika in Würfel.
"Die Ausbildungsbedingungen hier sind grundsätzlich die gleichen wie in anderen Betrieben", sagt Marcel Kaluzza, Küchenleiter am CJD Christopherusschulen. Allerdings können die Ausbilder flexibel reagieren und Rücksicht nehmen, wenn Adipositas-Patienten wie Max nach ein paar Stunden nicht mehr die Kraft haben, zu stehen.
Marcel Kaluzza: "Im Prinzip kann er alle Schritte mitgehen, kann überall mitmachen, hat von unserer Seite her keine Einschränkungen. Er ist manchmal seltener in der Küche, sagt: er ist in der Buchenhöhe, macht noch ein paar Stunden Sport, was in die Arbeitszeit mit eingerechnet wird, dass er da körperlich noch ein bisschen aktiv ist. Aber ansonsten hat er ganz normale Arbeitszeiten."

Dass sich ein Adipositas-Patient ausgerechnet zum Koch ausbilden lässt, findet Kaluzza nicht bedenklich. "Alles eine Sache der Selbstbeherrschung", sagt er. Außerdem lerne man viel über Lebensmittel.
Marcel Kaluzza: "Es ist körperlich sehr anstrengend. Es ist viel mit Laufen, mit Stehen verbunden. Die Lager müssen bedient werden. Dann während der Essensausgabe schauen wir immer schon, dass wir verschiedene Sachen abräumen, oder nachreichen beim Salatbuffet. Man ist eigentlich immer in Bewegung, man steht nicht starr oder sitzt, ist immer in der ganzen Küche unterwegs."
Maximilian Zettel wird zum Koch ausgebildet.
Maximilian Zettel wird zum Koch ausgebildet.© Caroline Kuban

Eine zweite Heimat

Seit einem guten Jahr lebt Max jetzt in Berchtesgaden. Er ist gerne hier, denn er kommt jeden Tag ein Stück weiter. Darüber sind sich die Betreuer alle einig. Allen voran Doris Gerber:
"Der Max hat jetzt glaub ich 120 Kilo, also er hat über 50 Kilo abgenommen inzwischen. Das Selbstbewusstsein hat sich, glaub ich, verzehnfacht bei Max, wenn man das messen könnte. Er ist unheimlich souverän in allem geworden, hat einen ganz besonderen Humor, der war versteckt, und er macht hier sein Ding."
Mit seinem Lebensstil hat Max auch sein Aussehen verändert. Modische Brille, die Haare an den Seiten rasiert, die Tolle oben grün gefärbt. Cappy und Bomberjacke sind seine Markenzeichen. Und seine Ziele?
Maximilian Zettel: "Erstmal möchte ich meine Ausbildung fertig kriegen, und dann müsst ich mit dem Amt klären, ob ich hier wohnen könnte noch für ne Miete, weil dann könnt ich auch das Sportprogramm hier mitmachen."
Das CJD Berchtesgaden ist für Max eine zweite Heimat geworden. Hier lernt er, seine Probleme in den Griff zu kriegen. Bis zu einem selbstständigen, eigenverantwortlichen Leben allerdings, ist es noch ein weiter Weg.

Hinweis: Das Adipositaszentrum in Berchtesgarden finden Sie unter: Christliches Jugenddorfwerk Deutschland.

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