Adelaïde Bon: "Das Mädchen auf dem Eisfeld"

Eingefrorene Erinnerungen

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Buchcover "Das Mädchen auf dem Eisfeld" von Adelaïde Bon, im Hintergrund die Füße eines Mädchens, das über einen zugefrorenen See läuft.
In "Das Mädchen auf dem Eisfeld" erzählt die französische Schriftstellerin Adelaïde Bon ihre eigene Geschichte. © Hanser Verlag / imago / Westend61
Von Sonja Hartl · 26.02.2019
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Lange Zeit fehlen ihr die Worte für das, was passiert ist: Adelaïde Bon erzählt in ihrem autobiografischen Roman "Das Mädchen auf dem Eisfeld" von sexuellem Missbrauch in ihrer Kindheit und von einer langen Suche nach sich selbst.
Das Buch setzt ein, nachdem es passiert ist. Was genau, kann die Neunjährige nicht sagen, sie hat kein Wort dafür. Ihre Eltern bemerken, dass etwas nicht stimmt, sie gehen mit ihr zur Polizei, erstatten Anzeigen wegen "unsittlicher Berührungen". Aber das Mädchen "spürt nicht die Quallen, die sich an jenem Tag in ihr einnisten, die langen, durchsichtigen Tentakel, die in sie eindringen, sie weiß nicht, dass diese Tentakel sie nach und nach in eine Geschichte hineinziehen werden, die nicht ihre Geschichte, die sie nicht betrifft".

Physischen und psychischen Grenzen auf der Spur

Es ist diese Sprach- und Erinnerungslosigkeit, der sich die französische Schriftstellerin Adelaïde Bon in ihrem Buch "Das Mädchen auf dem Eisfeld" literarisch nähert. Sie erzählt die Geschichte dieses Mädchens, das heranwächst, erwachsen wird, unter Ess-Störungen leidet, Drogen nimmt, Beziehungen hat und verliert, Schauspielerin wird und den Quallen und Tentakeln nicht entkommen kann. Und dieses Mädchen ist sie, Adelaïde Bon: Es ist ihre Geschichte.
Durch die Schauspielerei werden ihr ihre physischen und psychischen Grenzen klar. Mit Ende 20 schließt sie sich einer feministischen Theatergruppe an und nimmt an einem Kolloquium über sexuelle Gewalt teil. Es geht um Vergewaltigung, um Trauma, Dissoziation. "Eifrig schreibt sie alles mit, doch nicht einmal sie selbst erkennt den Zusammenhang."
Dann erfährt sie, dass auch vaginales Eindringen mit den Fingern eine Vergewaltigung ist. "Die Worte durchzucken sie wie Blitze. Also ist das, was sie seit über zwanzig Jahren unsittliche Berührungen nennt, diese Finger in ihr, seine Finger, die sie vier Jahr zuvor wiedergefunden hatte und seither jeden Tag spürt, eine VERGEWALTIGUNG."

Das Ich zurückerobert

Mit dieser Erkenntnis endet der erste Teil dieses in drei Teile aufgeteilten Romans und schon hier wird – wie in Annie Ernaux' "Erinnerung eines Mädchens" – sehr deutlich, wie sehr das Fehlen der Worte das Trauma verstärkt. In Bons Roman spiegelt die Erzählperspektive ihre Entwicklung wider: Anfangs personal wechselt sie bisweilen in die zweite und schließlich zunehmend erste Person. Die Neunjährige, das Mädchen auf dem Eisfeld, das so lange in diesem Zustand festgefroren war, bewegt sich, die Erzählerin erobert das Ich zurück.
Als es zum Prozess gegen den Täter kommt, versinnbildlichen aneinandergereihte Ausschnitte aus den Aussagen der anderen Opfer des Mannes das Ausmaß seiner Taten – und der Blickwinkel erweitert sich auf eine Gesellschaft, in der Vergewaltigung allzu oft heruntergespielt wird. Dadurch verbinden sich in dieser literarischen autofiktionalen Erzählung Emotion und Distanz, Erfahrung und Analyse eindringlich und beeindruckend.

Adelaïde Bon: "Das Mädchen auf dem Eisfeld"
Aus dem Französischen übersetzt von Bettina Bach
Hanser Berlin, Berlin 2019
240 Seiten, 22 Euro

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