Adam Tooze

Aufstand gegen Amerikas neue Weltordnung

Der 28. Präsident der USA, der Demokrat Woodrow Wilson (links), neben seinem Nachfolger Warren G. Harding am Tag von dessen Inauguration (4. März 1921) in Washington D.C.
Der 28. Präsident der USA, der Demokrat Woodrow Wilson (links), neben seinem Nachfolger Warren G. Harding am Tag von dessen Inauguration (4. März 1921) in Washington D.C. © dpa / picture alliance / UPI
Von Malte Herwig  · 18.04.2015
Der eigentliche Sieger des Ersten Weltkriegs waren die USA. Auf ihren Aufstieg zur neuen Vormacht antworteten Faschisten, Kommunisten und das kaiserliche Japan als "radikale Insurgenten", wie der britische Historiker Adam Tooze in einer profunden Studie über die Jahre 1916 bis 1931 schreibt.
Eine gute Frage für Kneipenwetten: Churchill, Kissinger, Obama − wer hat den Friedensnobelpreis nicht bekommen? Die Antwort lautet: Winston Churchill − der einzige der drei, der ihn verdient hätte. Dennoch ging der britische Staatsmann nicht leer aus. Churchill wurde 1953 mit dem Literaturnobelpreis für sein umfangreiches historiographisches Werk geehrt.
Darin gab sich der Staatsmann, der gerne mit dem Image der bärbeißigen Bulldogge kokettierte, mitunter überraschend optimistisch. Einige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs schrieb Churchill über die neue Weltordnung:
"Die Hoffnung ruht nunmehr auf einer sicheren Grundlage... Die Phase des Zurückschreckens vor den Gräueln eines Krieges wird lange anhalten."
Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze erklärt Churchills "relativ rosige Einschätzung" der Zukunft mit dem Umstand, dass sich Großbritannien nach den Umwälzungen des Ersten Weltkriegs noch am ehesten als Sieger unter den großen Mächten Europas sehen konnte. Der tatsächliche Gewinner waren die Vereinigten Staaten von Amerika, deren Aufstieg zur Weltmacht Tooze mit großer Belesenheit und Sinn für Detail nachzeichnet.
Cover Adam Tooze: "Sintflut"
Cover Adam Tooze: "Sintflut"© Siedler Verlag
Schon der Untertitel seines profunden Wälzers macht den zeitlichen Bogen deutlich, den der Autor schlägt: von 1916 bis 1931. Wir sind es gewohnt, in eingefahrenen Kategorien zu denken: 1914−1918, 1939−1945, 1949−1989.
Aber Geschichte ist ein dynamischer, fließender Prozess, dessen Wegmarken im Nachhinein allzu leichtfertig als Erklärung ihrer selbst genommen werden. Die Aufgabe der Historiker aber ist, der Vergangenheit ihre Selbstverständlichkeit zu nehmen, um zu erklären, wie es so gekommen ist und warum.
Es sei ein Wunder, zitiert Tooze den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, dass Historiker, die ihre Arbeit ernst nehmen, bei Nacht ruhig schlafen könnten:
"Die heikelsten Fragen werden... früher oder später dem Historiker anvertraut. Es ist sein Problem, dass sie deshalb nicht aufhören, heikel zu sein, weil sie von den Staatsmännern bereits erledigt und als pragmatisch geregelt ad acta gelegt worden sind."
Der zögerliche Hegemon
Im Zentrum steht die fatale Rolle Amerikas. Das Land war unter Wilson 1917 mit dem Vorhaben in den Krieg eingetreten, eine neue Weltordnung auszurufen, die anstelle von Autokratie und Militarismus die Herrschaft des Völkerrechts und internationale Verträge begründete.
Doch das Amerika der Zwischenkriegszeit war ein politisch zögerlicher Hegemon, der sich nur widerwillig in Europa einmischte. Die Zeitspanne von 1916 bis 1931 kennzeichnet die erste Nachkriegsphase, in der die Hoffnung auf eine Weltfriedensordnung zum Ausdruck kam: in Verträgen wie dem europäischen Sicherheitspakt von Locarno (1925) und dem Flottenabkommen der Seemächte Großbritannien, USA, Japan, Frankreich und Italien.
Die faschistischen und kommunistischen Gegner Amerikas befürchteten in den 30er-Jahren, dass mit einer "Pax Americana", die auf Jahrzehnte dominant sein werde, das Ende der Geschichte drohe. Sie sahen sich durch die globale Vormachtstellung der liberal-kapitalistischen Demokratie amerikanischer Prägung nach dem Ersten Weltkrieg bedroht.
"Die Führer des faschistischen Italien, des nationalsozialistischen Deutschland, des kaiserlichen Japan und der Sowjetunion hielten sich allesamt für radikale Insurgenten gegen eine machtvolle repressive Weltordnung."
Ab 1931, so das Fazit des Historikers, ließen die faschistischen und kommunistischen Rebellen gegen den Status quo jegliche Hemmungen fallen und läuteten eine Phase ultragewalttätiger Politik ein.
Die Gründe für das Zusammenbrechen der internationalen Ordnung findet er vor allem in der Entwicklung des Wirtschaftssystems. Minutiös zeichnet er das Ringen um eine solide Finanzordnung und internationale Währungsstabilität nach, analysiert die Entwicklung der Devisenmärkte und die Bedeutung von Zollabkommen.
Anders als nach dem Ersten Weltkrieg scheint die internationale Staatengemeinschaft, nach 1945 ihre Lektion gelernt zu haben. Fast möchte man Churchills so schnell enttäuschten Friedensoptimismus der 20er-Jahre auf die heutige Zeit übertragen.
Dabei droht unsere heutige Weltordnung gerade abzuwirtschaften: die anhaltende Euro-Krise, der wackelige Stabilitätspakt, die Spekulationen über einen EU-Austritt Griechenlands. All das sind Menetekel, welche die Leser von Adam Tooze in Alarmbereitschaft versetzen müssten. Sein Buch sollte Pflichtlektüre für Europas Politiker sein − und für uns, deren Wähler.

Adam Tooze: Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Thomas Pfeiffer.
Siedler Verlag, München, 30. März 2015
720 Seiten, 34,99 Euro, auch als E-Book erhältlich

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