Achim Freyer inszeniert "Œdipe" in Salzburg

Mythentheater vom Allerfeinsten

06:50 Minuten
Zu sehen ist ein Boxer in Siegerpose auf der Bühne.
Ödipus als Kind betritt in Boxermontur die Bühne. Da ist also jemand, der buchstäblich um sein Leben und um sein Schicksal kämpfen muss. © SF/Monika Rittershaus
Von Jörn Florian Fuchs  · 11.08.2019
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Der 85-jährige Altmeister Achim Freyer hat George Enescus Oper "Œdipe" bei den Salzburger Festspielen inszeniert. Sie gilt als schwer zu spielendes Werk. Unser Kritiker Jörn Florian Fuchs ist von der Aufführung rundum begeistert.
Natürlich kann man als Intendant so etwas erhoffen, aber planen lässt es sich nicht. Die Rede ist von einer Sternstunde auf allen Ebenen, wie es sie letzten Sommer an der Salzach gab: Romeo Castellucci inszenierte Richard Straussens "Salome" und brachte mythische Bilder zwischen Konkretion und Verrätselung in die Felsenreitschule, Franz Welser-Möst dirigierte die Wiener Philharmoniker auf Spitzenniveau, mit Asmik Grigorian in der Titelpartie wurde ein Weltstar geboren.

Die nächste Sensation

Solch ein singuläres Ereignis lässt sich nicht wiederholen, zumindest nicht gleich im folgenden Festspielsommer, dachte man sich. Es kam anders. Salzburg, Felsenreitschule, Wiener Philharmoniker, wieder ein Bilder(ver)zauberer sowie ein Spitzendirigent – und schon haben wir die nächste Sensation. Dazu noch mit einem kaum bekannten Stück, vor dessen Finale sogar Kultregisseur Hans Neuenfels einst kapitulierte, nein, mit der ausufernden Erlösungsszene der Titelfigur könne er einfach nichts anfangen.
Also strich er für seine Frankfurter Inszenierung von George Enescus "Œdipe" den vierten Akt gleich ganz. Nicht so Achim Freyer, der sich nun der ganzen Oper in Form eines Gesamtkunstwerks annahm. Das Stück wurde 1936 in Paris mit Riesenerfolg uraufgeführt, es ist Enescus einziges Musiktheater.

Œdipe liegt auf dem Boden, Arme und Beide von sich gestreckt. Neben ihm steht die Spinx. Hinter beiden ein König mit Totenkopf anstelle eines Kopfes.
Surreale Figuren und Formen prägen die Inszenierung.© SF/Monika Rittershaus
Düster geht es anfangs zu. Da liegt in der matt ausgeleuchteten Felsenreitschule ein Kind im Fat Suit auf dem Boden, es windet und räkelt sich zu George Enescus vorwärts drängenden Klangkaskaden. Bald sieht man, das Kind trägt Boxerkleidung, es kämpft sich buchstäblich ins Leben.

Lebendige Schere mit Tentakeln

Wenig später steckt der phänomenale Sänger Christopher Maltman in einem deutlich größeren Gummianzug, der besteht nun allerdings aus Muskeln. Auch er wird sich in vier Akte lang durchschlagen, auch mal durchaus konkret, wenn schwarze Ballons herabschweben, die ihm als Sandsackersatz dienen. Er kämpft aber auch mit sich und dem Schicksal im Traum, dann liegt er auf der Erde und erlebt – durchlebt – etwa die Plagen Thebens, ein riesiges Insekt, eine lebendige Schere mit Tentakeln. Allerlei maskierte und verwachsene Subjekte und Objekte bevölkern die Felsenreitschule.
In den Arkaden stehen diverse schräge Gestalten. Das zentrale Opernpersonal streift langsam über die Bühne, eindrucksvoll vor allem Brian Mulligan als König Créon sowie Anaïk Morel als Jocaste, Ödipus' Mutter und Frau, sie sieht aus wie eine verrückt gewordene Blume. Mehrfach schleppt sich der blinde Seher Terésias (der wunderbare John Tomlinson) durch die Szenerie, geführt von einem Kind.

Atemberaubendes Machtspiel

Freyer arbeitet wie so oft mit einer Vielzahl von Symbolen und Andeutungen, jedoch zügelt er seine überbordende Fantasie diesmal, da ist nichts zu viel, nichts lenkt ab vom eigentlichen Geschehen. Ödipus erschlägt seinen Vater, ehelicht seine Mutter, weiß von all dem nichts und als er es erfährt, blendet er sich. Rote Fäden hängen dann aus seinen Augen und über sein Gesicht, ein klassisches Bild aus dem asiatischen Theater.
Genial gelingt die Begegnung mit der Sphinx, als atemberaubend intensives Machtspiel. Das Wesen ist einerseits Frau, anderseits Ding aus einer anderen Dimension, nachdem Ödipus es besiegt hat, bleibt ihm als Souvenir ein großer Schuh. Solche feinen ironischen Momente sind eher selten, meist nimmt Freyer Enescus zwischen klangsinnlicher Üppigkeit (die Besetzung hat Mahler'sche Dimensionen) und düsteren Gesten changierende Musik sehr ernst und koppelt seine brillante Bildwelt exakt an.
Zu sehen ist eine vermutlich auf Stelzen gehende blinde Geistergestalt mit Punkten auf einem langen weißen Gewand. Sue wird geführt von einem kleinen Geist-Wesen. Am Boden liegt Œdipe, der sich vermutlich aus einem Seil befreit hat.
"In jedem Moment perfekt gemacht", urteilt unser Kritiker.© SF/Monika Rittershaus
Dirigent Ingo Metzmacher koordiniert alles perfekt und macht auch das locker strukturierte Leitmotivgeflecht hörbar. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung Huw Rhys James) sowie der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor (Leitung Wolfgang Götz) sind exzellent präpariert und auch wesentlicher szenischer Teil, mal als Thebaner, mal als Lemuren, mal als Kommentatoren.

Erlösung der Titelfigur

Direkt vor der Felsenreitschule hat Achim Freyer eine über sechs Meter hohe Skulptur errichtet, die aus nicht verwendeten Materialien seiner Inszenierung besteht. Man sieht ein vom Schicksal arg gepeinigtes, völlig verwachsenes Wesen, das charmant den derzeit allerorten gepflegten Recyclinggedanken aufnimmt. Der Schluss der Inszenierung hingegen führt uns die Erlösung der Titelfigur vor, diese transzendiert durch Selbsterkenntnis, Läuterung und Gnade, mittels Licht und Musik und der Bühnenkunst des mittlerweile 85 Jahre alten Achim Freyer.
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