Abwehr und Integration

Moderation: Matthias Hanselmann · 28.11.2005
Der Historiker Christoph Kleßmann ist überzeugt, dass die Integration von Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg weitestgehend gelungen ist. Man dürfe sich das nicht als einen glatten Prozess vorstellen, so Kleßmann. Es habe zunächst auch eine starke Abwehrhaltung gegenüber den Flüchtlingen gegeben.
Hanselmann: Flucht, Vertreibung - und: Integration. Mit bis zu 14 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen musste Nachkriegs- Deutschland klarkommen, ihnen neue Heimat geben, sie integrieren. Eine große Herausforderung, die in den vier besetzten Zonen Deutschlands kaum lösbare Probleme zu bringen schien.
Prof. Christoph Kleßmann ist der ehemalige Leiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, guten Tag.

Kleßmann: Guten Tag.

Hanselmann: Wie muss man sich die Ankunft der Geflohenen Vertriebenen 1945 und in den Folgejahren vorstellen: was hat sich da in den deutschen Städten und Dörfern abgespielt?

Kleßmann: Ich denke, man sollte sich zunächst einmal klar machen, dass das unterschiedliche Phasen waren, in denen dieser Prozess ablief. Also es gab einmal die sehr große Gruppe derer, die als Flüchtlinge vor der Roten Armee noch vor Kriegsende kamen, also noch zur Zeit der Nazi-Herrschaft. Dann gab es die Phase zwischen Kapitulation und Potsdamer Abkommen, die Zeit, wo es die so genannten wilden Vertreibungen gab, die besonders grausam und brutal waren.

Und dann gab es nach dem Potsdamer Abkommen die Versuche, sozusagen halbwegs geregelte Transporte und Umsiedlungsaktionen vorzunehmen. Das ist nicht genau zahlenmäßig auseinander zu kriegen, aber es sind schon unterschiedliche Phasen deutlich erkennbar. Und daraus ergeben sich (…) dann unterschiedliche Gesamtzahlen, ich denke, das muss man bei einer kritischen Abwägung einigermaßen berücksichtigen.

Was die Form der Ankunft anbetrifft, so ist das, was wir eben gehört haben, sicherlich ein sehr gutes Beispiel: also die spontane, instinktive Abwehr der eingesessenen Bevölkerung gegenüber denen, die da irgendwie auftauchen. Man konnte das vielfach, oder wollte das nicht richtig einordnen, und dann kamen so Abwehrreaktionen: "Das sind die Pollacken" oder "Die aus dem Osten, die nichts haben" oder was weiß ich. Das ist sicherlich einer der schlimmsten und bittersten Erfahrungen gewesen, abgesehen von dem Zustand, dass diese Flüchtlinge und Vertriebenen in der Regel nichts bekamen und auf elementare Hilfe angewiesen waren.

Hanselmann: Wie sind die denn versorgt worden?

Kleßmann: In der ersten Phase gab es ja noch so minimale Regularien, dafür haben ja auch die NS-Behörden noch gesorgt, dass die untergebracht waren und versorgt wurden. Und dann haben sich natürlich die Alliierten drum gekümmert. Nur wenn man sich vorstellt, wie die Gesellschaft aussah, in die diese Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen hineinkam, dann kann man sich auch unschwer vorstellen, wie schwierig das war.

Die Städte waren größtenteils zerstört, das Verkehrssystem funktionierte nicht mehr. Deutschland war unterwegs, es gab Evakuierte, es gab ehemalige Zwangsarbeiter, die auch alle unterwegs waren. Also das konnte beim besten Willen nicht funktionieren. Insofern, glaube ich, sind dann auch sehr wichtig zu erwähnen die nichtstaatlichen Organisationen, insbesondere die kirchlichen Aktivitäten. Die katholische wie auch die evangelische Kirche hat sich im lokalen Rahmen sehr intensiv darum gekümmert, dass diese Menschen nicht völlig ins Bodenlose fallen.

Hanselmann: Kann man eigentlich Aussagen darüber treffen, wie die Stimmung allgemein gegenüber den Vertriebenen und Flüchtlingen war? Gab es nur negative Stimmen? Es gab doch sicherlich auch sehr viele Deutsche, die gesagt haben, lasst sie herkommen, wir wollen ihnen helfen, wir wollen mit ihnen zusammen die Zukunft gestalten.

Kleßmann: Die hat es sicherlich gegeben. Man wird das nicht quantifizieren können, wie viel Stimmen es gab, die sozusagen eine positive Grundhaltung gezeigt haben. Ich glaube schon, dass die Mehrheit zunächst einmal von dieser spontanen, oder instinktiven Abwehr bestimmt war, was nicht immer böser Wille war, was sich aber oft so gezeigt hat. Die politischen Zusammenhänge, dass das nicht so einfach vom Himmel gefallen ist diese Vertreibung, sondern dass das eben auch eine Reaktion war auf die vorangegangene deutsche Besatzungspolitik im Osten, die ist doch bei den meisten erst sehr viel später gekommen.

Hanselmann: Waren alle vier Besatzungszonen gleichermaßen betroffen?

Kleßmann: Nein, da gibt's deutliche Unterschiede, allein schon von der Geographie her war die sowjetische Besatzungszone am stärksten betroffen. Aber auch insgesamt, was die Quantität anbelangt. Also, die sowjetische Zone musste am meisten Vertriebene aufnehmen, um die vier Millionen. An zweiter Stelle stand die britische, dann die amerikanische Zone und das Schlusslicht bildete die französische Zone, die sich anfangs ausdrücklich geweigert hat, Flüchtlinge aufzunehmen, so dass 1947 nur etwa 50.000 Flüchtlinge dort registriert wurden. Das hat sich dann hinterher geändert. Vor allem die Flächenländer mussten verstärkt Flüchtlinge aufnehmen. (…)

Hanselmann: Wie unterschiedlich war das Verhalten gegenüber Flüchtlingen in der DDR und in der Bundesrepublik?

Kleßmann: Man kann sehr deutliche Unterschiede feststellen: Die sowjetische Zone hat sehr frühzeitig, auch auf Druck von Moskau, eine sehr konsequente "Integrationspolitik" betrieben. 1948 wurde bereits die Zentralverwaltung für Umsiedler - Umsiedler war ja die offizielle Bezeichnung, die ja sehr schönfärberisch ist - aufgelöst. 1950 gab es noch ein Gesetz für die Umsiedler und danach war das Problem offiziell gelöst. D.h. die sollten dann nicht mehr als Sondergruppe behandelt werden.

In der Bundesrepublik bzw. in den Westzonen muss man die Gesetzgebung zunächst parallel zur Währungsreform 1948 sehen. Man hat versucht, mit dem Soforthilfegesetz eine gewisse Startbasis zu schaffen, das ist dann aber in größerem Umfang erst 1952 mit dem Lastenausgleichsgesetz erfolgt. Das hat man als die größte Vermögensabgabe der deutschen Geschichte bezeichnet. Das ist der gezielte Versuch gewesen, Lasten umzuverteilen. Und das hat ganz wesentlich zur Integration der Vertriebenen in die deutsche Gesellschaft beigetragen.

Das ist der eine Punkt, den anderen würde ich aber gerne auch noch erwähnen: die Tatsache, dass sich die Vertriebenen organisieren konnten in Landsmannschaften, später im Bund der Vertriebenen. Es hat 'ne öffentliche Debatte gegeben und auf diese Weise hat man überhaupt dieses traumatische Erlebnis ein Stückchen wenigsten aufarbeiten und verarbeiten können.

Hanselmann: Würden Sie sagen, jetzt, 60 Jahre später, die Integration ist weitestgehend gelungen?

Kleßmann: Ich würde sagen ja, es ist keine reine Erfolgsgeschichte, wie das manche darstellen, aber es ist überwiegend eine Erfolgsgeschichte. Die Schwierigkeiten die es gegeben hat, werden seit den 80er Jahren wieder verstärkt thematisiert und das ist auch wichtig, damit man nicht die Vorstellung hat, das ist sozusagen ein glatter Prozess gewesen.

Hanselmann: Welche Bedeutung haben jetzt noch die Vertriebenenverbände?

Kleßmann: Ich hab da so meine Zweifel. Sie hatten anfangs eine wichtige Funktion, nämlich Hilfestellung zu leisten, sie hatten auch die Funktion, bei der Traditionspflege Anstöße zu geben, Rahmen zu bieten. Das haben sie auch jetzt noch, aber das geht natürlich auch längst ohne diese spezifische Interessenorganisation. Ich würde auch nicht von der Vertriebenenorganisation insgesamt reden, da gibt es durchaus Differenzierungen, aber vieles, was an die Öffentlichkeit kommt, kriegt dann doch manche falschen Zungenschläge, denn die politischen Schlachten sind längst geschlagen, und ich denke damit muss man sich abfinden. Insofern sehe ich keine zwingende Notwendigkeit dafür.
Flüchtlinge am Anhalter Bahnhof in Berlin warten auf einen Zug
Flüchtlinge am Anhalter Bahnhof in Berlin warten auf einen Zug© AP Archiv/Henry Burroughs