Abtreibungsverbot in Polen

Es geht um mehr als um "Mein Bauch gehört mir"

23:38 Minuten
Frauen mit blutverschmierten Beinen und Gesichtern: Mit einer Performance protestieren Frauen in Krakau gegen striktere Abtreibungsvorgaben.
Mit einer Performance protestieren Frauen in Krakau. Auch in vielen kleineren Städten wird protestiert. © picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel
Von Florian Kellermann · 11.11.2020
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Der Protest gegen das strikte Abtreibungsverbot in Polen hält an, wird mehr und mehr zu einer Antiregierungsbewegung. Auch die Kirche, die bisher als unantastbare Instanz galt, gerät in den Fokus der meist jungen Demonstrantinnen.
Eine der vielen inoffiziellen Hymnen der Proteste: Eine Frauenband aus Krakau hat sie auf die Melodie von "Bella Ciao" geschrieben. "An einem Donnerstag wollte mir das Verfassungsgericht meinen Körper nehmen", heißt es da. Und: "Am helllichten Tag hat es uns den Krieg erklärt." Immer wieder erklingt das Lied bei Demonstrationen, wie hier in einer Amateuraufnahme aus Breslau.
Jener Donnerstag habe das Land verändert, erklärte die Schriftstellerin Sylwia Chutnik im privaten Radiosender TOK FM:
"Er war wie die Pfefferminz-Oblate, die im Sketch von Monty Python den Vielfraß zum Platzen bringt. Was wir jahrelang heruntergeschluckt haben, ist an die Oberfläche gekommen. So lange sind wir Frauen diszipliniert worden, so lange haben wir uns selbst diszipliniert. Die Büchse der Pandora war geöffnet."

Den Frauen werden durch die Verschärfung des Abtreibungsverbots elementare Bürgerrechte entzogen, findet Bozena Choluj, Professorin Deutsch-Polnische Kultur- und Literaturbeziehungen und Gender Studies an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder. Das ganze Interview im Podcast der Weltzeit.

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Manche sprechen schon vom Aufstand einer Generation. Dafür gibt es mindestens zwei Indikatoren: Die Proteste haben sich über das ganze Land ausgebreitet, bis hin in Kleinstädte. Und in ihnen drückt sich eine offenbar lang aufgestaute Wut aus. Der Religions-Soziologe Pawel Zalecki von der Universität in Thorn:
"Die Frage ist jetzt: Ist das, was da gerade passiert, eine vorübergehende Geschichte, eine Art Hysterie? Oder wird das etwas, was die junge Generation nachhaltig prägt? Wenn ja, dann stehen wir in der Tat vor großen gesellschaftlichen Veränderungen."

Schärferes Abtreibungsverbot durch das Verfassungsgericht

Auslöser war ein Urteil. Das Verfassungsgericht hat das Abtreibungsrecht weiter verschärft. In Polen sind Schwangerschaftsabbrüche per Gesetz verboten – mit einigen wenigen Ausnahmen. Frauen dürfen bisher abtreiben, wenn ihr Leben in Gefahr ist, wenn sie durch eine Vergewaltigung schwanger geworden sind – oder wenn der Fötus einen schweren genetischen Defekt aufweist. Diese letzte Indikation erklärte das Gericht für ungültig. Sie widerspreche dem Grundrecht auf Leben, das in der Verfassung verankert ist. Abtreibungsgegner jubelten, allen voran die Aktivistin Kaja Godek:
"Das Gericht hat das Recht auf Leben anerkannt. Denn dieses Recht existiert, es folgt aus dem Naturrecht. Bisher wurde es Kindern, die als schlechter eingestuft wurden, vorenthalten. Polen ist heute ein Beispiel für Europa und für die Welt. Es gibt keine geschichtliche Notwendigkeit, dass wir immer weiter nach links marschieren müssen. Es ist möglich, das Leben zu schützen."
Kaja Godek hat selbst ein Kind mit Down-Syndrom – ein Kind also, gegen dessen Geburt sich Frauen in Polen bisher entscheiden können. Die 38-Jährige ist mit ihrer Einstellung nicht allein. Vor einigen Jahren startete sie eine Aktion für ein generelles Abtreibungsverbot in Polen. Sie legte dem Sejm 830.000 Unterschriften vor.
Wenn das Urteil des Verfassungsgerichts rechtskräftig wird, dürfte es in Polen kaum noch legale Schwangerschaftsabbrüche geben. Denn fast alle legalen Eingriffe erfolgten bisher auf der Grundlage, dass der Fötus einen genetischen Defekt aufwies. Damit dürften noch mehr Polinnen als bisher ins Ausland fahren, um ihre Schwangerschaft abzubrechen. Die Sejm-Abgeordnete Katarzyna Kotula von der Partei "Die Linke" sagte im öffentlichen Fernsehen:
"Fakt ist: Schon jetzt brechen über 120.000 Polinnen im Jahr ihre Schwangerschaft ab. Das ist jede dritte Schwangerschaft. Unmittelbar nach dem Urteil haben entsetzte Frauen bei uns angerufen und gefragt, was sie jetzt tun sollen. Ich wohne an der deutsch-polnischen Grenze. Auf der deutschen Seite kenne ich zwei Krankenhäuser, wo Polinnen Schlange stehen, um ihre Schwangerschaft abbrechen zu können."

Notlage vor allem für ärmere Polinnen

Das Urteil des Verfassungsgerichts bringt also vor allem ärmere Polinnen in eine Notlage. Denn sie können sich so einen Eingriff im Ausland nicht leisten. Damit wächst für viele die Angst vor einer Schwangerschaft. Und deshalb gehen vor allem junge Polinnen auf die Straße – wie die 23-jährige Weronika, die an der bisher größten Demo in Warschau Ende Oktober teilnahm, zu der nach Schätzungen 100.000 Menschen kamen:
"Ich will einfach die Wahl haben, ob ich ein Kind zur Welt bringe oder nicht. Niemand in meiner Familie oder meinem Bekanntenkreis findet das Urteil des Verfassungsgerichts gut. Auch wenn nicht alle protestieren wollen. Ich bin für den ruhigen, den friedlichen Kampf."
Weronika studiert Betriebswirtschaft. Mit dem Schlachtruf "Hier ist Krieg", den einige bei den Protesten anstimmen, kann sie nicht so viel anfangen. Sie ging auch lieber nach Hause, als andere Protestierende aus der Warschauer Innenstadt Richtung Norden zogen, in den Stadtteil Zoliborz, vor das Haus von Jaroslaw Kaczynski, den Vorsitzende der Regierungspartei PiS und dem mächtigsten Mann des Landes.

Wut der Demonstrierenden richtet sich gegen PiS

Umfragen zeigen, dass über 70 Prozent der Polen gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts sind. Der Zorn der Protestierenden richtet sich vor allem gegen die rechtskonservative Regierungspartei PiS. Denn sie steht hinter dem Urteil des Verfassungsgerichts. Fast alle Juristen dort wurden von der PiS-Mehrheit im Parlament gewählt und gelten als deren Anhänger.
Jaroslaw Kaczynski ist ein persönlicher Freund der Gerichtspräsidentin. Als die Proteste das ganze Land erfassten, erklärte er: "Dieses Urteil entspricht völlig der Verfassung. Im Lichte der Verfassung konnte kein anderes Urteil fallen. Ich erinnere daran, dass diese Verfassung in den 1990er-Jahren beschlossen wurde, als die Linke dort die große Mehrheit hatte."
Protestplakat von einer Demonstration in Krakau gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Zu sehen: PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski in Handschellen hinter Gittern.
Die Proteste richten sich zunehmend gegen die Regierungspartei PiS und Parteischef Jaroslaw Kaczynski.© picture alliance / NurPhoto / Artur Widak
Vieles deutet darauf hin, dass Kaczynski nicht mit einem derart großen Protest gerechnet hatte. Dass die Polen es mehrheitlich ablehnen, wusste er. Deshalb hatte die PiS ja auch darauf verzichtet, das Abtreibungsrecht im Parlament zu verschärfen. Sie schob das dem Verfassungsgericht zu.
Die Menschen würden ruhig bleiben, so das Kalkül, in einer Zeit, in der sich das Corona-Virus in Polen so schnell verbreitet wie in kaum einem anderen EU-Land. Kaczynski täuschte sich – und reagierte wütend.

Kirchen werden angegriffen und verteidigt

"Kirchen werden angegriffen. Das ist in dieser Form in der polnischen Geschichte neu. Und es ist fatal. Denn das moralische System, das die katholische Kirche überliefert hat, ist das einzige, das in Polen allgemein bekannt ist. Seine Ablehnung bedeutet Nihilismus. Dem müssen wir uns entgegenstellen. Das ist die Pflicht des Staates, aber auch unsere Bürgerpflicht. Wir müssen die polnischen Kirchen verteidigen, um jeden Preis."
Kaczynski dachte also gar nicht daran, die Situation zu beruhigen. Vielmehr goss er noch Öl ins Feuer. Doch in einem Punkt hatte der 71-Jährige völlig Recht. In Polen geschehen Dinge, die noch vor Kurzem undenkbar schienen.
Eine Protestaktion mitten im Dom von Posen, aufgenommen von einem der Teilnehmer. Demonstranten tauchten beim Sonntagsgottesdienst auf, hielten Plakate hoch und riefen "Wir haben genug". Denn schließlich war es die katholische Kirche, die – gemeinsam mit Aktivisten wie Kaja Godek – jahrelang gegen Abtreibung getrommelt hatte.
Militär schützt eine katholische Kirche in Warschau, während der Proteste gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes.
Militär schützt eine katholische Kirche in Warschau, während der Proteste gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. © picture alliance / ZUMA Wire / Robert Pastryk
Der Pfarrer brach schließlich den Gottesdienst ab und bat die Gläubigen in die Sakristei – damit sie dort das Abendmahl feiern konnten. Ähnliches spielte sich in den vergangenen Wochen auch in anderen Kirchen ab. Polen sei seitdem nicht mehr das gleiche Land, sagt der Thorner Religionssoziologe Pawel Zalecki.
"Hier ist ein bestimmter Rubikon überschritten worden. Kirchen waren bisher geschützt durch eine Aura des Sakralen und durch die polnische Tradition. Jetzt wird sich ein Trend, der schon zu beobachten war, noch einmal deutlich verstärken. Die emotionale Bindung der Menschen an die katholische Kirche als Institution wird abnehmen. Auch immer mehr Gläubige werden sich von ihr distanzieren und ihren Glauben in anderen Gemeinschaften leben."
Auch in kleineren Städten gab es Proteste, wie sie ein Amateurvideo aus Szczecinek zeigt. In der Provinz galten Geistliche als unantastbar, als Autoritätspersonen. Das Video zeigt, wie Schülerinnen, nicht älter als 16 Jahre, einen katholischen Pfarrer umkreisen. Er will mit ihnen reden – vergeblich. "Dein Platz ist in der Kirche", skandieren sie ohne jeden Respekt. Und noch deutlicher: "Zeig deine Gebärmutter."

Proteste stoßen nicht bei allen auf Zustimmung

Dabei stoßen die Proteste längst nicht bei allen Polen, die der PiS kritisch gegenüberstehen, auf ungeteilte Begeisterung. Maria Libura, Expertin für Gesundheit bei der Denkfabrik "Klub Jagiellonski", hält sie für zu radikal. Dem regierungskritischen privaten Radiosender TOK FM sagte sie:
"Was mir fehlt bei den Protesten, ist die Forderung, dass sich Frauen auch für Kinder entscheiden können sollen. Bei der Organisation Frauen-Streik, die für die Proteste verantwortlich ist, kommt das nicht vor. Dabei ist heute in Polen doch viel schwieriger, aus ökonomischen Gründen, aus Gründen der Lebensplanung, drei Kinder zu haben als sie nicht zu haben."
Die Frauenbewegung dürfe also nicht nur Entscheidungsfreiheit fordern, meint Maria Libura. Sie sollte auch danach fragen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der weniger Frauen ihre Schwangerschaft abbrechen wollen. Wie die Debatte geführt werde, von allen Seiten, sei besonders schmerzhaft für Menschen mit Behinderung:
"In Polen leben ja Menschen, die nach dem noch geltenden Recht hätten abgetrieben werden können. Sie sind intellektuell nicht voll entwickelt. Aber einige von ihnen haben Smartphones. Sie lesen Nachrichten. Und für sie ist das ein Schock. Sie gewinnen den Eindruck, als hätten sie die ganze Gesellschaft gegen sich. Ich habe immer wieder appelliert, keine Sprache zu verwenden, die sie stigmatisiert, die sie aus der Gesellschaft ausschließt."
Dieser Vorwurf geht natürlich auch an die Regierung und an die katholische Kirche. Denn diese tun zu wenig dafür, dass Menschen mit Behinderung Teil der Gesellschaft sein können. Die PiS hat in der Tat die Zuwendungen für solche Menschen angehoben. Mit maximal 350 Euro pro Monat reichen sie aber auch kaum zum Leben.

Abtreibungsurteil ist noch kein Gesetz

Die Situation ist verfahren. Niemand weiß, wie es weitergeht. Die Regierung hat das Urteil des Verfassungsgerichts noch nicht veröffentlicht, damit es vorerst nicht in Kraft tritt. Offenbar will sie warten, bis sich die Stimmung im Land beruhigt. Ein Schritt, der beinahe verzweifelt wirkt und das verfassungsrechtliche Chaos im Land noch verstärke, sagt Marek Safjan, Richter am Europäischen Gerichtshof:
"Es gibt erhebliche Bedenken dagegen, wie die PiS das Verfassungsgericht umgestaltet hat, ob es selbst überhaupt der Verfassung gemäß gebildet wurde. Deshalb könnte man aus rechtlicher Sicht sagen: Es ist sinnvoll, so ein Urteil nicht zu veröffentlichen. Allerdings setzt das ein gefährliches Beispiel für die Zukunft. Jede künftige Regierung kann dann auch ein Urteil, das sie für falsch hält, einfach nicht veröffentlichen und damit blockieren."
Staatspräsident Andrzej Duda, der dem PiS-Lager angehört, will die Lage mit einem neuen Gesetz retten. Demnach sollen Schwangerschaftsabbrüche dann weiterhin möglich sein, wenn das Kind nach der Geburt keine Überlebenschancen hat. Kinder mit dem Down-Syndrom müssten Frauen allerdings zur Welt bringen.
Ein Kompromiss, allerdings mit einem entscheidenden Webfehler: Er stellt niemanden zufrieden, die Abtreibungsgegner in der PiS nicht und schon gar nicht die Protestierenden.
Die wollen längst nicht mehr nur ein Gerichtsurteil aus der Welt schaffen, wie Weronika, die 23-jährige Studentin der Betriebswirtschaft, bei der größten Demo in Warschau sagte: "Ich hoffe, dass wir bald eine andere Regierung haben werden. Eine, die toleranter ist und offen für Dialog."
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