Abseits der Metropolen

Von Uwe Nieber · 06.01.2012
Für Bettina Goldberg hat sich Schleswig-Holstein als Fundgrube erwiesen. Für ihre Geschichte der jüdischen Minderheit zwischen Nord- und Ostsee hat sie achtzig Zeitzeugen befragt, unzählige Privatdokumente analysiert und diverse Archive in Deutschland, Israel und den USA besucht.
"Alle wesentlichen Entwicklungen im Judentum, auch alle Konfliktlinien innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, alle Probleme zwischen Minderheit und Mehrheit spiegeln sich in diesem Land wider. Auf verkleinerter Ebene - deshalb Mikrokosmos - und können um so intensiver studiert werden."

Die jüdische Minderheit kam spät und blieb klein. Selbst zu ihrer Blütezeit lebten auf dem heutigen Landesgebiet weniger als 2.000 Juden. In Landgemeinden, Klein- und Großstädten. Schleswig-Holstein - die Diaspora in der Diaspora.

"Ich bin in einer solchen ländlichen Region viel stärker darauf angewiesen, mich mit meiner Umwelt in irgendeiner Weise anzufreunden. Weil, ich habe einfach kaum eigene infrastrukturelle Voraussetzungen."

Seit Ende des 16. Jahrhunderts ein Leben Tür an Tür mit den christlichen Nachbarn, nie in Ghettos. Unter strikten Auflagen zwar bis zur Reichsgründung 1871, doch gleichberechtigt bis zum Ende der Weimarer Republik, schließlich bedrängt und verfolgt in der NS-Zeit. Bei aller kulturellen Annäherung blieben Juden und Christen in der Regel für sich - von überkonfessionellen Ehen abgesehen, so Bettina Goldberg:

"Aber man kann sagen, dass man doch eher geschäftlich verkehrte und die wirklich intimen Freundschaften untereinander pflegte."

Abseits der Metropolen war die Familie Dreh- und Angelpunkt jüdischen Lebens. Organisiertes Gemeindeleben war die Ausnahme. In Übereinstimmung mit den Ritualgesetzen lebten die wenigsten jüdischen Kleinstädter und Landbewohner.

"Also fromm waren wir nicht."

Erinnert sich Berta Bettheil, aufgewachsen im Flensburg der Zwanziger Jahre.

"Aber zu Pessach haben wir Matze bestellt, da haben wir kein Brot gegessen. Und meine Mutter hat jeden Freitagabend die Kerzen angezündet zum Schabbes. Meine Eltern haben uns mitgegeben, dass wir etwas von Jüdischkeit wissen sollen."

Zeitweise wurden Gottesdienste in Flensburger Privathäusern nur an hohen Feiertagen abgehalten. Nicht immer regelgerecht. Schimon Monin berichtet, dass er als Kind mit dem Gebetbuch in der Hand den erforderlichen zehnten Erwachsenen ersetzen musste.

"Und ich habe so dolle Angst gehabt; denn die haben mir gesagt, wenn du das hinfallen lässt, dann müssen alle Leute, die hier sind, die ganze Woche fasten – und du zwei Wochen."

In Kiel waren jüdische Geschäfte auch am Sabbat geöffnet - selbst die gesetzestreuer Juden aus Osteuropa. Keine Abwendung vom Glauben, sondern schlicht Existenzdruck, so Yehuda Offen. Seine Eltern betrieben zwischen den beiden Weltkriegen einen Laden für Herren- und Berufskleidung.

"Die meisten Kunden kamen am Sabbat. Es waren die Arbeiter, nachdem sie ihren Lohn hatten, und Bauern aus der Umgebung. Wenn ein Jude am Sabbat sein Geschäft nicht aufmachte, dann verlor er nicht einen Tag, er verlor dann fast die ganze Woche."

Händler wie die Familie Offen brachten es zwar zu einem geregelten Einkommen, doch lebten viele Ostjuden gerade in den ersten Jahren nach ihrer Zuwanderung Anfang des 20. Jahrhunderts in kümmerlichen Verhältnissen, so die Historikerin Bettina Goldberg:

"Sie sind nicht wohlhabend gewesen. Sie waren so am unteren Rand im Kleinbürgertum."

Ihre Lage unterschied sich deutlich von der des deutschjüdischen Mittelstandes. Gerade in Kiel und Lübeck. Die alteingesessenen Mitglieder der beiden Gemeinden waren Kaufleute und Rechtsanwälte, Hochschullehrer und Ärzte. Gesellschaftlich respektiert, nicht bloß akzeptiert.

"Es gab durchaus angesehene. Also zum Beispiel die Besitzer des Holstenhauses hier in Kiel, Goldberg. Oder in Lübeck der Leiter des Hochofenwerks. Das waren angesehene Mitglieder des Bürgertums, also, das kann man schon sagen."

Karitative Hilfe war ihnen selbstverständlich, doch weitergehende Beziehungen zu Ostjuden gab es nur selten. Kontakt beschränkte sich zumeist auf Gemeindeaktivitäten. Josef Winter war einer der wenigen deutschen Juden, die ostjüdische Spielkameraden hatten. Vor den Vorurteilen seiner Umwelt war aber auch der Sohn des Lübecker Rabbiners nicht gefeit.

"Ich hab mich geschlagen mit einem andern Jungen im Hof. Einmal hat er tief geschlagen, und da hab ich gesagt: du Pollack! Und mein Vater hat oben am Fenster gestanden und hat’s gehört. Da hab ich Prügel bekommen."

Religiös grundierte Spannungen stellten gerade die wiederholt rabbinerlose Kieler Gemeinde vor Zerreißproben. Dort hatten die sogenannten Liberalen das Sagen. Ostjuden galten bei ihnen wegen ihrer streng gesetzestreuen Religiosität als Fremdkörper. Bei der Mehrheit der deutschen Juden spielte sie eine untergeordnete Rolle. Sie engagierten sich lieber in Berufsverbänden, Wohlfahrtsorganisation und Kulturvereinen. Vor allem in den beiden größten Gemeinden, in denen zwei Drittel aller Juden in Schleswig-Holstein lebten.

"Also in Kiel und in Lübeck gab es durchaus ein jüdisches Vereinswesen. Was allerdings nicht alle Aspekte abdeckte. Aber da kann man schon feststellen, dass Juden stärker in dem eigenen Verein aktiv tätig waren."

Unter anderem im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten und dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Beider Mitglieder stellten sich antisemitischen Diffamierungen entgegen. Mittels Vorträgen, Anzeigenkampagnen und Rechtshilfe. Spätestens ab 1930 vergebene Liebesmüh‘. Als sich gewalttätige Übergriffe auf Juden häuften, ließ es die Öffentlichkeit, allen voran die Kirchen, weitgehend an Solidarität fehlen. Für viele lange Zeit gleichwohl kein Grund, das Land zu verlassen.

"”Coming from Poland, knowing anti-Semitism, we didn’t find living under the Nazis such a terrible shock.- Today is bad; tomorrow will be better.”"

So die ehemalige Kielerin Chana Thee, 1905 in Ostgalizien geboren und 1928 nach Deutschland eingewandert, in ihren Memoiren. Zu schwer wog der Schritt, die bescheidene, doch gesicherte Existenz gegen eine unsichere Zukunft zu tauschen. Und als die Boykottpolitik der Nazis griff, da wurde es schwierig, ein Aufnahmeland zu finden.

Wer zurückblieb, erlebte fortan Mord und Misshandlung, wurde ausgenutzt, ausgegrenzt und entrechtet. Der wenige Beistand in Arbeitervierteln einiger Städte wurde alsbald von den Nazis weggeknüppelt. Nach zwei Deportationen gab es in Schleswig-Holstein im Juli 1942 keine Juden mehr. Nur eine Handvoll überlebte. Über 1.200 Männer, Frauen und Kinder aus dem Norden wurden in Theresienstadt und Auschwitz ermordet.

An ihrem Vermögen bereicherte sich nicht allein der Staat; auch weite Kreise der Bevölkerung zogen daraus ihren Vorteil. Nur wenige kehrten nach Kriegsende zurück. Willkommen waren sie nicht. Das bekam auch Jürgen Jaschek zu spüren, als er bei einstigen Nachbarn in Bad Schwartau Hinterlassenschaften seiner Familie anholte.

"Ich fand die Koffer, die aufgebrochen waren. Das Leinen war weg. Ich entdeckte ein paar Besteckteile auf der Erde; die Leute hatten ihren Enkeln erlaubt, mit den Löffeln und Gabeln im Sand zu spielen. Die Bündel mit Briefen und Fotos, die noch da waren, nahm ich an mich. Ich wollte die Nähmaschine mitnehmen, aber die Leute weigerten sich, sie zurückzugeben. Sie leugneten tatsächlich, die Koffer zur Aufbewahrung angenommen zu haben. Das Erlebnis, erneut ausgestoßen zu sein, war wieder eine bittere Erfahrung."
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Jürgen Jaschek wanderte 1948 über Schweden zu Verwandten in die USA aus. Einem Zielland der rechtzeitig Emigrierten und Überlebenden. Andere Juden aus Schleswig-Holstein gingen nach Palästina und Großbritannien.

"Insgesamt kann man sagen, dass die jüdische Gemeinschaft in den Fünfziger Jahren und Sechziger Jahren dann immer mehr geschrumpft ist, auch nicht mehr selbstständig war, sondern an Hamburg angegliedert, angeschlossen war, und diejenigen, die hierblieben, das waren dann vor allen Dingen alte und kranke Menschen, die nicht mehr die Kraft hatten."

Sagt Bettina Goldberg, die für ihre Geschichte der jüdischen Minderheit in Schleswig-Holstein achtzig Zeitzeugen befragt, unzählige Privatdokumente analysiert und diverse Archive in Deutschland, Israel und den USA besucht hat. Mit dem Buch "Abseits der Metropolen" legt sie erstmals eine Gesamtdarstellung jüdischen Lebens im Land zwischen den Meeren vor. Ein Buch, das Maßstäbe setzt – so der Flensburger Geschichtsprofessor und NS-Forscher Gerhard Paul:

"Weil die Arbeit sehr anschaulich argumentiert, viele Bilder auch verwandt werden und von daher glaub‘ ich auch, dass sie über einen engeren Kreis von historischen Fachleuten hinaus ein Publikum finden wird."

Seit Öffnung des sogenannten Ostblocks in den Neunziger Jahren sind viele jüdische Emigranten aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion auch nach Schleswig-Holstein gezogen. Vom Land werden sie beim Wiederaufbau jüdischer Gemeinden finanziell und ideell unterstützt.